VERPATZTE ZUKUNFT : Ohne Handbuch
Ich kenne nur wenige, die radikale Konsequenzen aus der Erkenntnis gezogen haben, dass Weihnachten zuallererst einen volkswirtschaftlichen Aspekt hat. Auch wenn es überwiegend familiäre Erwartungen sind, die sie „nach Hause“ fahren lassen, machen sich die meisten auf den Weg. Ich gehöre dazu. Vermutlich mag ich meine Familie zu gerne.
Als Kompromiss habe ich das Credo: Keinen Schund schenken. Und das Geld an den richtigen Orten lassen. Andernfalls: Klauen. Für meinen 14-jährigen Cousin, von dem ich weiß, dass er Computerspiele und Fußball mag und ein furchtbar netter Mensch ist, hatte ich in diesem Jahr „Das kleine Handbuch des Anarchismus“ im Blick. Im Laden blättere ich durch das Buch im Comicstil. Grundgedanken, Geschichte und verschiedene Zweige anarchistischer Theorie werden – nicht ganz voraussetzungsfrei – beschrieben. Unsicher ob der Herausforderung schaue ich mich in den Regalen nach Alternativen um. Ich stelle mir vor, wie bei meinem Cousin neben das Schulwissen ein anderes Wissen treten wird. Voll legitimiert, da in Buchform. Welch ein Gefühl meinen Cousin erfassen wird mit der Möglichkeit, die Welt anders zu denken. Wann und wo ihm das Gelesene erneut einfallen könnte und dass er, ob der Inspiration, anders als gewohnt handeln könnte. Weil das ganz fabelhafte Aussichten sind, gehört das Buch gekauft. Also lege ich den Kinderroman mit den ansatzweise unterlaufenen Geschlechterstereotypen weg, durchquere den Laden – und stehe vor dem Loch im Regal, in dem eben noch das „Handbuch“ stand. Weg! Gerade eben verkauft. Kein weiteres Exemplar im Laden. Morgen ist Heiligabend. Ätschbätsch, höre ich den Kapitalismus leise kichern, heute mal kein „Nachfrage regelt das Angebot“. Er zeigt sein gewohnt zynisches Lächeln. Und mein Cousin wird nichts dagegen tun.
HILKE RUSCH