■ Urteilsverkündung im geschrumpften Honecker-Prozeß: Das Dilemma als Rechtsform
„Es wäre wünschenswert und möglich gewesen, daß die DDR vor der Vereinigung die Taten der Angeklagten selbst strafrechtlich bewältigt hätte. Auch unter diesem Gesichtspunkt kam die Einigung zu schnell.“ Ein Ausflug in die Zeitgeschichte, unternommen vom Vorsitzenden Richter Dr. Buß im Rahmen der Urteilsverkündigung gegen die Rest-Angeklagten des „Honecker-Prozesses“. Gedacht als Eingemeindung möglicher Kritik, trifft dieser Satz genau das Dilemma jedes BRD-Gerichts, das über Straftaten ehemaliger DDR-Machthaber zu entscheiden hat. Einem Tribunal, errichtet zu Zeiten der demokratischen DDR (März bis Oktober 1990), wären nicht nur die juristischen Probleme erspart geblieben, die sich aus dem Untergang des ehemaligen Völkerrechtssubjekts DDR für eine spätere Strafverfolgung seiner leitenden Funktionäre ergeben. Es hätte seine Legitimität aus dem Umbruch des November 1989 hergeleitet, hätte aber prozessual und den zur Anwendung kommenden Normen nach strikt rechtsstaatlich vorgehen können. Jenseits aller bombastischen Redensarten von der Katharsis, die angeblich von der Abrechnung mit den ehemaligen Bedrückern fürs Volk ausgeht, hätte der Urteilsspruch eines Tribunals zu einem ruhigen Selbstbewußtsein der DDR-Bürger beitragen können, zu dem Gefühl, selber vor der Vereinigung das eigene Haus bestellt zu haben.
Hätte, wäre. Die Überlegungen mancher Bürgerrechtler, 1990 eine Wiederholung des Nürnberger Tribunals ohne dessen evidente Schwächen zu wagen, fiel in der DDR auf dürren Boden. Als die (west)deutsche Justiz sich nach 1990 daranmachte, die Verantwortlichen für 208 Tote an der innerdeutschen Grenze zur Rechenschaft zu ziehen, geschah dies keineswegs mit dem Gestus des geschichtlichen Siegers, der nachträglich die Maßstäbe der westdeutschen Justiz DDR-Sachverhalten überstülpt. Die Spruchtätigkeit diverser Gerichte zu den Todesschüssen an der Mauer führte zu dem Ergebnis, daß der bedenkenlose Gebrauch der Waffe in Tötungsabsicht gegen Flüchtlinge nicht von den Gesetzen der DDR gedeckt war. Politisch aber legten diese Urteile das Resümee nahe, daß es wohl doch weiser sei, die Kleinen zu hängen und die Großen laufenzulassen.
Solchen melancholischen Schlußfolgerungen hat der gestrige Urteilsspruch den Boden entzogen. Mit der Präzisierung der Teilnahmeformen — Anstiftung zum Totschlag im Fall der Generale Keßler und Streletz, Beihilfe im Fall des SED-Provinzpotentaten Albrecht — hat das Gericht die Konsequenz aus der Tatsache gezogen, daß das eigentliche Entscheidungszentrum des SED-Staats nicht der Nationale Verteidigungsrat war, sondern ein enger Zirkel innerhalb des Politbüros beziehungsweise seines Sekretariats. Gegenüber der Feststellung des Gerichts, die Mitglieder des Verteidigungsrates hätten in dem judizierten Zeitraum dafür gesorgt, daß das System der Grenzsicherung mit allen blutigen Konsequenzen funktionierte, daß sie es waren, die die „Befehlskette nach unten“ in Gang hielten, ist den Angeklagten keine stichhaltige Argumentation eingefallen. Weder der Hinweis auf die souveräne Handlungsfreiheit der DDR-Organe überzeugte noch sein Gegenteil, die behauptete Machtlosigkeit angesichts der sowjetischen „Freunde“.
Das Urteil als ein Produkt der „Siegerjustiz“ zu qualifizieren kann wohl nur denen gefallen, die sich allzu lang zu den „Siegern der Geschichte“ gezählt haben. Für sie sind die Massaker an der Grenze „tragisches Geschehen“. Da alle Seiten in den Kalten Krieg samt seinen unmenschlichen Praktiken verstrickt gewesen seien, sei nur die historische, nicht aber die justizförmige Aufarbeitung hilfreich. Hinter diesem billigen Objektivismus, der das Verbrechen im historischen Ursachenknäuel verschwinden läßt, haben sich noch stets die Täter versteckt. Christian Semler
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