■ Uri Avnery über Israels „Operation Rechenschaft“: Der Siebentagekrieg
Dutzende israelische Artilleristen beklagen sich, ihr Gehör sei beschädigt. Kein Wunder: Während der sieben Tage dieses Krieges haben sie 21.000 Granaten auf 68 Dörfer und Kleinstädte geschossen – im Durchschnitt also 310 Granaten per Dorf. Hinzu kamen 1.000 Bomben der Luftwaffe und eine unbekannte Zahl von Raketen und Granaten der Kriegsmarine. Außer schiitischen Dörfern wurden auch palästinensische Flüchtlingslager bombardiert.
Dabei sollen „nur“ 114 Zivilisten und 50 bis 70 Guerillas umgekommen sein. Denn Ziel war nicht zu töten, sondern eine halbe Million Menschen systematisch zu vertreiben, damit diese die libanesische Regierung unter Druck setzen sollten. Die ihrerseits sollte Druck auf Syrien ausüben, damit die Syrer Druck auf Iran ausüben, damit die Iran-treue schiitische Hisbollah („Partei Gottes“) aufhört, Katjuscha-Raketen auf israelische Dörfer zu feuern.
Zum ersten Mal hat Israel also einen Krieg geführt, dessen offizielles Ziel es war, Zivilisten zu vertreiben. Zum ersten Mal schrieben israelische Kolumnisten und schrien israelische Demonstranten daher auch, daß das Kriegsziel ein „Kriegsverbrechen“ wäre. Der neue, regierungsfeindliche „Friedensblock“ behauptete, „die schwarze Fahne der Illegalität“ wehe über diesem Befehl, und daher seien die Soldaten laut israelischem Gesetz verpflichtet, den Befehl zu verweigern. Aber nicht nur die Artilleristen, auch Ministerpräsident Jitzhak Rabin ist offenbar schwerhörig. Ihn interessiert der moralische Aspekt des Krieges nicht. Er wollte Resultate. Am achten Tag, nach der Einstellung des Feuers, prahlte er, alle seine Ziele erreicht zu haben.
Um das zu beurteilen, muß man die Entwicklung sehen, die zu diesem Krieg führte. Die offizielle israelische Version ist einfach: Hisbollah hat Katjuscha-Raketen auf israelische Grenzdörfer und -städte in Nord-Galiläa geschossen. Um dem ein Ende zu bereiten, startete Israel die Operation. Die Gegenversion fängt viel früher an. 1982 schickten der damalige Regierungschef Menachem Begin und sein Verteidigungsminister Ariel Scharon die israelische Armee in den Libanon, um die Palästinenser von dort zu vertreiben. Die schiitische Bevölkerung im Süd-Libanon, welche die Palästinenser auch satt hatte, empfing die israelischen Truppen mit Begeisterung. Man glaubte, die guten Israelis seien nur gekommen, um mit den Palästinensern aufzuräumen, und würden dann wieder abziehen.
Nach ein paar Monaten merkte man, daß dem nicht so war. Die Schiiten, bis dahin eine friedfertige, beinahe passive und entmachtete Bevölkerung, wurden plötzlich aktiv und mächtig. Zur ungeheuren Überraschung der israelischen „Experten“ begannen sie einen wirksamen Guerillakrieg, der Israel zwang, den Libanon zu räumen. Es war das erste Mal in der Geschichte Israels, daß die Armee ein Gebiet räumen mußte.
Das war 1984, und das unglückselige Paar Begin-Scharon wurde von Regierungschef Schimon Peres und Verteidigungsminister Jitzhak Rabin abgelöst. Sie tragen die Verantwortung für eine unheilvolle Entscheidung: statt sich ganz aus Libanon zurückzuziehen, richteten sie im Süd-Libanon eine „Sicherheitszone“ ein. In diesem Gebiet wurde eine libanesische Söldnertruppe aufgestellt („Süd-Libanon-Armee“), und auch die israelische Armee selbst operiert dort nach Gusto.
Die Zone war eine ständige Provokation. Die vorsichtige schiitische Amal-Bewegung hatte Angst, den ungleichen Kampf aufzunehmen, was zwangsläufig dazu führte, daß die extreme, fanatisch islamische Hisbollah, bis dahin eine Randerscheinung, die Führung übernahm. Sie gebärdet sich als nationale Befreiungsbewegung, deren Ziel es ist, den Heimatboden vom Feinde zu säubern. Auch die machtlose libanesische Regierung mußte das akzeptieren.
Im Laufe der Zeit, mit Unterstützung Irans, wuchs Hisbollah zu einer tüchtigen Guerillatruppe. Ihre Angriffe auf israelische Stellungen in der Sicherheitszone wurden immer heftiger. Eine moderne, technologische Armee kann gegen Guerillas wenig ausrichten. Also reagierte die Armee auf andere Art: Alle paar Tage kamen libanesische Dörfer nördlich der Zone unter Beschuß, mit der Hoffnung, daß die Einwohner die Guerillas zwingen würden, aufzuhören. So kam es zum (vorläufig) letzten Akt, der „Operation Rechenschaft“, ein zufälliger Codename.
Wenn man sich jetzt wirklich Rechenschaft ablegt, was hat dann dieser Krieg genützt? Auf der Plusseite der Bilanz steht: die Katjuschas schweigen. Ein von den Amerikanern vermitteltes „Einverständnis“ besagt, daß Hisbollah nicht mehr israelisches Hoheitsgebiet mit Raketen beschießen wird. Aber die Guerillas haben sofort klargemacht, daß dies nur gelte, wenn Israel auch keine schiitischen Dörfer bombardiere. Rabin vertritt das Gegenteil: Israel dürfe bombardieren, die Guerillas aber nicht.
Auf die Palästinenser hat der Krieg einen verheerenden Eindruck gemacht. Er zeigte, daß Israel in wenigen Tagen eine halbe Million Menschen vertreiben kann, ohne daß die Welt auch nur muckst. Seit dem Trauma von 1948, als 700.000 Palästinenser aus Israel und den von Israel eroberten Gebieten vertrieben wurden, leben sie in ständiger Angst, dies könne sich wiederholen.
Die israelische Friedensbewegung hat sich in diesem Kriege nicht mit Ruhm bekleckert. Seit dem Amtsantritt Rabins vor einem Jahr ist sie taubstumm. Ihre Freunde sind jetzt Minister, man will nicht gegen eine so schöne „Friedensregierung“ protestieren. Das änderte sich auch nicht, als diese Regierung, mit Zustimmung der vier Minister der „linken“ Meretz-Partei, 415 Palästinenser deportierte, die besetzten Gebiete mit einer andauernden Blockade (genannt „Sperre“) belegte, die Unterdrückungsmaßnahmen dort noch weiter verschärfte – und in den sogenannten Friedensverhandlungen nicht einen einzigen Schritt vorangekommen ist.
Nur eine einzige Gruppe demonstrierte sofort: die erst vor kurzem ins Leben gerufene Gush Schalom („Block des Friedens“). Sie wurde gegründet, um „Rabins Waisen“ zu seiner politischen Kraft zu bündeln und hat gegen Deportation, Sperre und für einen Kompromiß demonstriert. „Peace Now“ hat den Krieg zunächst „bedingt unterstützt“. Erst am siebten Kriegstag wollte man eine zahme „Protestwache“ anberaumen, aber da war es schon vorbei. Meretz-Minister Jossi Sarid, ehemaliger Friedensaktivist, begrüßte den Kriegsausgang „mit ungeheurer Genugtuung“ als „lobenswerten Erfolg“ Rabins. Das Endergebnis: Eine halbe Million Vertriebener, die nach einer schrecklichen Woche in ihre zerstörten Dörfer zurückkehren, sind zu fanatischen Feinden Israels geworden.
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