■ UrDrüs wahre Kolumne: Matthäus-Passion
Jetzt will der Lenz uns tatsächlich grüßen, von Mittag weht es lau, und der rote Großvater sitzt mit seinem Enkel an der Kaje und erzählt ihm vom einst so roten Mai. Der Lütte aber weint und weint, weil die Batterien seines Gameboys verbraucht sind und er weder Super Mario weiterspielen kann noch darauf hoffen darf, dass ihm der Alte die rote Edition der Pokemons schenkt. Denn Opa hat nicht nur eine kleine Rente – er geht zum Besorgen solcher Dinge auch noch in die Kaufhalle, wo so was allenfalls in Billigversion zu haben ist oder dann, wenn statt Bisaflor und Pikachu mit ihren 151 oder mehr Entwicklungsstufen längst schon Astroboy und sein schwimmendes Weltraum-Pony angesagt sind. Ansonsten weiß der alte Zausel natürlich nur zu genau, dass ein Kilo Fleischknochen eine gute Brühe ergibt, dass endlich Butter bei die Fische muss und man auf dem Wochenmarkt am Domshof das Gemüse am besten kurz vor Schluss kauft – und in jener Zukunft überhaupt nicht mehr, weil das rege Markttreiben von der Großmarkt Bremen GmbH mit der Androhung fester Luxuspavillions offenbar schon fest im Interesse der Champagnerfratzen dieser Stadt weggeplant wurde.
Vom ERSTEN MAI aber trennen uns nur noch ganze drei Tage und ausgerechnet jetzt wird Bremen von einem wahren Working Class Hero verlassen: Betriebsrat Eike Hemmer von der Hütte Bremen haut erstmal in den Sack und geht nicht nur auf Rente, sondern auch noch an Bord eines halbwegs selbstgezimmerten Piratenschiffs, um die Weltmeere zu durchfahren und vielleicht auch zu schauen, wie es anderswo um die Bedingungen des Aufstands steht: Möge er uns rechtzeitig mitteilen, falls er irgendwo dieses Land auf der Erde entdeckt, wo der Traum von der Commune Wirklichkeit ist: Ich weiß nur eins, und da bin ich sicher. Dieses Land hier. Diese Land hier ist es nicht! In diesem Sinne: Glückliche Reise ...!
In diesem Land aber wirft kürzlich ein jugendliches Arschgesicht in hipper Freizeitkleidung einem meiner Lieblings-Bettelmänner vor dem Sexshop der Wehrtmachts-Jagdfliegerin Beate Uhse eine Freikarte für die Bremer Spielbank in den Hut und prustet dabei voll niederträchtiger Fröhlichkeit: „Mach was draus, Alter!“ Und leider fiel kein gefrorenes Stück Scheiße aus einer Flugzeugtoilette vom Himmel und diesem Lustikus knallhart auf den Kopp, und so wird man wohl damit rechnen müssen, dass dieser verderbte Wurm noch seinen Zug nach Delmenhorst erwischt hat, teilte er seiner offenbar auf den Kosenamen „Ela“ hörenden Süßen doch per Handy unüberhörbar seine Ankunftszeit mit. Übrigens hat Johann Sebastian Bach noch auf seinem Totenbett vom lieben Gott verlangt, dass solche Herzamputierten niemals nicht die Matthäus-Passion hören dürfen. Aber vermutlich hat Zebaoth auch hier wieder mal gekifft, und der Bengel hört sich das Teil jetzt in einer Special Radio Version als Dancefloor-Mix aus den Boxen seiner Anlage im Offroader an. Wenn er mit Ela irgendwo auf der Wildeshauser Geest kleine grüne Männchen zeugt ...
UrDrü heute so verbnittert? mag da jene liebenswerte Leserin fragen, die sonst die Güte und Herzensbildung ihres Kolumnisten außer Zweifel sieht und jetzt so ganz und gar das Positive vermisst: Nun, das sind eben so die Gedanken und Gefühle, die dem Patienten im Big-Brother-Container der Herzklinik durch das Gemüt ziehen, wenn er noch nicht weiß, ob und wie und wann er von den Ärzten für dieses oder jenes nominiert wird. Nächste Woche wird alles wohl überstanden sein und dann meldet sich mit einem Krankenschwesternwitz aus dem Fundus der hier verzweifelt nach Sinnstiftung suchenden Zivis an der Front des dreisten Alltags zurück
Ulrich „Bypass“ Reineking
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