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Aus taz FUTURZWEI

Unterwegs beim politischen Nachwuchs Nur für den Hintergrund!

Sie sind jung. Sie wollen die Zukunft gestalten. Doch wie genau stellen sich junge Politiker:innen das vor? Eine Reise nach Oxford und durch Deutschland.

Im Hochgeschwindigkeitsbetrieb der deutschen Boomer-Politik bleibt die Zukunft schon mal auf der Strecke Foto: Christian Lue / unsplash.com

Von ARON BOKS

Immer wieder laufe ich nahe meiner Wohnung in Berlin-Neukölln an einem bemalten Schild vorbei. »Wenn dir deine Zukunftspläne keine Angst machen, sind sie nicht groß genug«, steht da drauf. Und wie es dort wie Sperrmüll an einer Hauswand lehnt, passt es zu einer aktuellen Umfrage der Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen, nach der 63,5 Prozent der Deutschen lieber in der Vergangenheit leben wollen. Bei den 18-29-Jährigen sind aber immerhin 47 Prozent für die Zukunft. Aber für welche Zukunft und wie genau soll sie politisch gewonnen werden? Das will ich von Köpfen der Jugendorganisationen von fünf im Bundestag vertretenen Parteien wissen. Meine Reise führt mich nach Oxford, Magdeburg, Bonn, Berlin und ins Havelland.

Station 1: Oxford, UK

Zuerst fliege ich nach London-Stansted. Von dort aus geht es mit dem Bus weiter nach Oxford. Ich bin mit Franziska Brandmann verabredet, der Bundesvorsitzenden der Jungen Liberalen. Sie ist 28, lehrt bereits in Oxford, wo sie durch ein Vollstipendium European Politics studiert und zudem promoviert.

Sie holt mich auf einem E-Roller ab. Franziska trägt eine gelbe Jacke und um ihre dunklen Augen Lachfalten, die selbst dann nicht verschwinden, als sie sich über das unflexible E-Roller-System aufregt, das einem hier verwehrt, sein Fahrzeug abzustellen, wo man will. Später essen wir Sushi auf einem Bordstein und in einem ihrer Lieblingspubs sprechen wir über die Klischee-Liberalen, zu denen sie erst einmal nicht gehört.

Als Tochter einer Krankengymnastin und eines Lehrers aus Niedersachsen, ohne Firmenvorsitzerbe und was es da so an Klischees gibt – trotzdem mit Doppelauslastung des JuLi-Bundesvorsitzes an einer der weltbesten Unis. Gerade deswegen klingt diese Story perfekt für einen FDP-Infostand.

»Aber nicht allen Liberalen geht es um Aufstieg, Aufstieg, Aufstieg«, sagt Franziska und lässt ihre flache Hand dabei wie beiläufig staatstragend auf dem Tisch klopfen. »Es gibt auch Menschen, die sind liberal – und möchten einfach so bleiben, wie sie sind. Auch das ist Freiheit.« Franziska sieht in ihr Bierglas, während sie spricht, und ihre bisher durchweg heitere Stimme wirkt plötzlich gedämpft, als sie mir erzählt, dass sie sich bei den JuLi-Kongressen auch mal neben den oder die eine:n Redner:in wünscht, der oder die an oder mit etwas gescheitert wären. »Damit wir uns für noch mehr Chancengleichheit einsetzen können!«

Ihr Blick hellt erst auf, als sie mir von einer Frau erzählt, die sie in diesem Zusammenhang interessiert: die deutsche Meisterin im Fliesenlegen, Azubi, Ost-Biografie – aber selbstbestimmt und erfolgreich. Franziska will bei ihr ein Tagespraktikum machen. »Das wäre doch stark!«

Am nächsten Morgen frühstücken wir im Jericho, Franziskas Lieblingscafé. »Bist du auch Vegetarier?«, fragt sie und deutet mit einer Gabel auf meine poached eggs neben ihrem Veggie-English-Breakfast.

»Kein dogmatischer.«

»In einer Studie habe ich gelesen, dass Millionen von Deutschen Vegetarier geworden sind«, sagt sie und salzt ihre Hashbrowns. »Nicht aufgrund einer Vorgabe oder Regulierung, sondern weil sie es vernünftig finden. Finde ich schon interessant.«

Es beginnt eine Grundsatzdiskussion über Verzicht und Eigenverantwortung und wir reden über das FDP-Thema harte CO2-Deckelung, eine Klimadividende für den Basisverbrauch und Mehrkosten für jene, die mehr verbrauchen. Ob der Staat auf die Vernunft seiner Bürger:innen setzen kann, wenn die Folgen des Konsums für das Klima eingepreist werden. Und irgendwie kennen die JuLis am Ende immer irgendein Familienmitglied oder eine:n Freund:in, der oder die vernünftig genug wäre für die Herausforderung der Zukunft.

»COOL«, SAGT FRANZISKA UND MACHT EINE FAUST.

»KEEP ON ROCKING!«

Später in der Stadt kommt ein junger Mann mit Cardigan und rotbraunen Haaren aus einer Bibliothek direkt auf uns zu. Franziska strahlt richtig, während sie mit ihm spricht. Ein ehemaliger Student von ihr. Sein Examen habe er bestanden, mit einer Zwei.

»Cool!«, sagt Franziska und macht eine Faust. »Keep on rocking!«

Keep on Rocking.

»Er hat sich Sorgen gemacht, ob er seine Klausur packt und ich habe immer wieder seine Essays korrigiert«, sagt sie, während wir in Richtung Busbahnhof gehen. »Unglaublich, was individuelles Feedback bringt.«

Kurz danach beginnt sie zu lachen.

»Aron«, sagt sie, »ich denke gerade drüber nach, wie inszeniert das gewirkt haben muss. War das aber nicht!«

»Nein, das war doch schön!«, sage ich und wir umarmen uns zum Abschied.

Station 2: Magdeburg

Meine nächste Station heißt Sachsen-Anhalt. Die Basisgruppe der Linksjugend [solid] veranstaltet ein offenes Plenum. Vorn sitzen die Sprecher:innen Vera, Ole und Lotti vor gut 15 Interessierten. Sie sind alle um die 20 Jahre alt. Es gibt Limo und Freibier und bevor es losgeht, eine »Emo-Runde«, in der jede:r sagen kann, wie es um die eigene Stimmung steht.


»Nicht gut«, sagt ein Typ mit Metal-Shirt und langen Haaren, dann sieht er auf sein Bier. »Aber ich arbeite dran.«

Gleich zu Beginn wird klargestellt, dass in dieser Basisgruppe nicht nur getrunken wird und was bei der Linksjugend besser läuft als in der Mutterpartei:

1. Sie mögen sich untereinander.

2. Sie haben klare Positionen zu #metoo und zur Verurteilung des russischen Angriffskrieges und gegen Sahra Wagenknecht.

3. Sie wollten gemeinsam arbeiten. Gegen Rechts, gegen Ausbeutung und für das Klima. Sachsen-Anhalt soll 2030 klimaneutral werden.

Ein paar Stunden zuvor: Kennenlernen zu viert vor der Parteizentrale. Es geht natürlich um Zukunftsvisionen. Ole trägt schlichtes Kurzhaar, Brille, Poloshirt und spricht am euphorischsten von allen. Er ist 21 und Schatzmeister der Basisgruppe. Vorher war er Mitglied bei den Jungen Liberalen. Der Bruch sei durch das von den JuLis befürwortete Sondervermögen für die Bundeswehr erfolgt – das wären eingelagerte Schulden von Kommunen, die laut ihm in sinnvolle Projekte investiert werden sollten. »Und überhaupt – Aufstiegsversprechen durch knochenharte Arbeit bedeutet für mich einfach keine Freiheit!«, sagt er und redet immer schneller von Umverteilung der Herrschaftsverhältnisse, Produktionsmitteln und Emanzipation.

Vera, die Basisgruppengründerin mit Kapuzenjacke, gutmütigem Blick, kräftiger Stimme und spendabler Haltung gegenüber ihrem Sternburgbier- und Tabakvorrat – legt eine Hand auf ihr Herz und schließt die Augen. Dann sagt sie zu Ole: »Ich bin so stolz auf dich!«

»AUFSTIEGSVERSPRECHEN DURCH KNOCHENHARTE ARBEIT BEDEUTET FÜR MICH EINFACH KEINE FREIHEIT!«

Kurz darauf beginnt Vera eine Debatte über die Abschaffung des Kapitalismus. Neben ihr sitzt Lotti. Sie ist 20 und trägt schulterlanges Haar, Jeans und Sneaker und passt auf den ersten Blick mit ihrer sanften Art zu reden eher in Oles sich herauskristallisierende Realo-Haltung. Doch das täuscht.

»Dann kommen die Feinheiten: sozialistisch, kommunistisch, anarchistisch, anarcho-kommunistisch, irgendwie so eine Form«, sagt sie. »Aber die Richtung stimmt ja schon mal, was bei der Partei nicht immer gegeben ist.«

Eine Revolution sei notwendig – aber natürlich nicht aus Selbstzweck, sondern, um Ungerechtigkeiten zu beseitigen. »Nur muss man aufpassen, dass die Rechten hier nicht schneller sind«, sagt Vera.

Die würden das machen, was sie immer machen, wenn es um Zukunft geht: Angst schüren. Hoffnung hätte es schwer, dagegen anzukommen. Genau wie das Wording und Framing der Linkspartei. Bei der AfD wären immer die Geflüchteten der Grund allen Übels, die Linken wissen, dass es am Kapitalismus liegt, aber die Sache ist zu komplex.

»Aber wir müssen endlich weg von dem Theoriegewichse«, sagt Ole und sieht hektisch zu Lotti und Vera. »Sorry, wenn das diskriminierend kam.«

»Nein, das stimmt schon!«, sagen sie.

Später in der Sitzung spricht Ole in seiner Funktion als Kassenwart.

»Der Mitgliedsbeitrag beträgt 1,50 Euro«, sagt er und sieht wieder etwas aufgeregt in die Runde. »Aber wenn das jemandem zu viel ist, ist das kein Problem!«

Am Ende des Plenums gibt es kaum Fragen. Eigentlich nur, ob die Internationale gesungen werden soll. Nach der Raucherpause vielleicht. Ich hätte gern mitgesungen, aber ich muss zum Bahnhof, der letzte Zug wartet nicht. Bevor ich gehen will, tippt mich Ole am Arm an.

»Aron, eine Sache noch«, sagt er etwas leiser, während die potenziellen Mitglieder Richtung Ausgang gehen. »Ich will den Kapitalismus nicht abschaffen, das ist doch unrealistisch. Das ausbeuterische System will ich abschaffen. Ok?«

»Ok!«

Station 3: Bonn

Am nächsten Abend treffe ich Jessica Rosenthal in Bonn. Sie ist gerade 30 geworden, Bundestagsabgeordnete und Bundesvorsitzende der Jusos. Bonn ist ihr Wahlkreis. In ihrem Büro angekommen, bittet mich ein drahtiger Mann Anfang 30 mit Hemd, kurz Platz zu nehmen. Ihr Pressereferent. Eine Bürotür geht auf. Heraus tritt, kopfschüttelnd, Jessica Rosenthal, mit blonden mittellangen Haaren, in Konferenzoutfit – rotem Kleid und einer dünnen schwarzen Jacke. Sie ist seit Kurzem verheiratet. Als eine Mitarbeiterin vorbeikommt, tippt sie sich an ihre Stirn und schimpft über steuerrechtliche Benachteiligung von Alleinstehenden im Gegensatz zu Eheleuten. »Ich habe ja gewusst, dass es dramatisch ist. Aber, dass es so drastisch ist?«

Sie, der Pressereferent und ich bleiben offensichtlich beim gegenseitigen Sie und reden auf dem Weg in das Havanna, ein Café in der Innenstadt, über alles Mögliche, was noch unfair ist in Deutschland. Rosenthal selbst erinnert ihre Fraktion seit ihrem Einzug in den Bundestag ständig daran und fordert immer wieder: Umverteilung, Chancengleichheit, soziale Gerechtigkeit. Und genau deswegen gilt sie medial als die Parteiperson, »die den Kapitalismus überwinden will«. Sie sehe das als Selbstverständlichkeit, wie sie im Café noch einmal betont.

»Aber im jetzigen Moment«, frage ich: »Wie findet man eine Zukunftserzählung, ohne Resignation?«

»Das wird Sie jetzt vermutlich nicht überraschen: durch Arbeit, von der Menschen gut leben können«, antwortet sie und spricht von ihrer Zukunftsvision: einer Vier-Tage-Woche, Job- und Ausbildungsgarantien, Startkapital für alle und stärkeres Mitbestimmungsrecht in Unternehmen. Dann macht sie eine Pause und lehnt sich mit verschränkten Armen in ihren Stuhl.

»Wenn wir uns erzählen lassen, dass das alles nicht möglich ist, dann ist es die Resignation, die denen hilft, die das Geld gerade schon haben.«

Beim Umsteigen im Bahnhof Hannover laufe ich beim Rauchen dem Fernsehproduzenten und taz-Kolumnisten Friedrich Küppersbusch über den Weg und erzähle ihm von meiner Reise.

»Wird das eine Reise in das Schöne oder in das Gruselige?«, fragt Küppersbusch.

Station 4: Berlin

Wird das eine schöne oder gruselige Zukunft? Und was kann man wirklich machen, damit Erstere wahr werden kann?

Irgendwie ist das ja die Frage, die meine Reise bestimmt. Also stelle ich sie Timon Dzienus, 26, Ko-Bundesvorsitzender der Grünen Jugend, in einem Park in Berlin-Mitte. Während ich ihn das frage, steht Timon in seinem roten Hoodie etwas abseits von mir, konzentriert und mit gesenktem Kopf wie ein Fußballprofi, der nach dem Spiel von einem Fernsehreporter abgefangen wird.

»Also, es wird nicht unbedingt besser«, sagt er langsam. »Ich glaube, dass Grüne deswegen noch deutlicher den direkten Zusammenhang von sozialer Gerechtigkeit und Klimaschutz verstehen müssen. Wenn die Leute nicht wissen, wie sie über den Winter kommen, interessieren sie sich auch nicht für den Klimaschutz.«

Solche Sätze höre ich im Gespräch mit grünen Politiker:innen schon während meiner ganzen Reise, weswegen ich noch von keinem erzählt habe. Immer wenn mal etwas Unerwartetes oder Lustiges passierte, hieß es: »Das ist nur für den Hintergrund, ja?«

»Ich glaube, es ist superwichtig, bei der Partei öffentlich Druck zu machen, um sich nicht im Regierungskleinklein zu verlieren, sondern Visionen zu kommunizieren!«, sagt Timon weiter und vermutlich stelle ich einfach zu doofe Fragen.

»AM LIEBSTEN WÜRDE ICH WAS SCHÖNES MACHEN.«

Ist euch die Mutterpartei nicht radikal genug? Was muss jetzt passieren, dass die Klimakrise aufgehalten werden kann? Wie erreicht ihr die Leute im Osten? Da habe ich mir richtig was Originelles einfallen lassen.

»Könntest du dir vorstellen, Abgeordneter zu werden?«

Er legt den Kopf schief, wartet ein paar Sekunden und sieht mir direkt in die Augen. »Am liebsten würde ich was Schönes machen«, sagt er. »Ins Stadion gehen, oder so. Ich halte es aber für total notwendig, dass man sich politisch einbringt, um was zu verändern.«

Station 5: Falkensee

Mein letztes Ziel liegt in Brandenburg. Dort treffe ich Ljubomir Stankovic, Vorsitzender der Jungen Union im Havelland, in seinem Wohnzimmer in einer Reihenhaussiedlung in Falkensee. Auch er siezt mich.

Stankovic, ein gedrungener Mann mit weißem Hemd, ist 34 und damit noch ein Jahr im JU-Alter. Außerdem ist er serbisch-orthodox und hat inzwischen drei Kinder, die er mir auf Fotos in seinem Haus zeigt. Neben seiner Stelle als Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Uwe Pfeiler ist er Hochzeitsfotograf und Befürworter der Ehe für alle. Er selbst hat bereits mit 16 geheiratet. Kurz nach dem Kennenlernen seiner jetzigen Frau und das Arrangement durch die beiden Familien. Bei seinen Töchtern würde er das nicht machen wollen. Traditionen und Werte müssten immer hinterfragt werden. Trotzdem sei konservative Politik für die Zukunft wichtiger denn je.

»Wie passt das zusammen?«, frage ich.

»Nehmen wir die Bibel«, sagt er mit einer bassigen Kundenbetreuerstimme und redet von Verzicht und Nächstenliebe, der daraus resultierenden Anweisung, die Welt zu achten und vergleicht das Ganze dann mit der Erziehung seiner Kinder. Die würden trotz seiner klaren Anweisungen machen, was sie wollen, bis er sie ihnen erklärt. Dann klappt's.

Menschen müssten verstehen, wieso zu viel Fleischkonsum und zu viel CO2 schlecht ist, um ihr Verhalten freiwillig zu verändern. Während er das sagt, sitzt er gerade vor mir. Die Arme auf seine Oberschenkel gestützt.

»Wenn die Menschen der Wirtschaft dann signalisieren, dass sie bewusster leben, wird auch diese bewusster«, sagt er. Und schon reden wir über zivilen Ungehorsam und die Protestformen der Letzten Generation. Stankovics Lächeln hält sich selbst jetzt. »Wissen Sie?«, sagt er ruhig, »Jesus hat auch die Wahrheit gesprochen und wurde dann gekreuzigt.«


»Worauf wollen Sie hinaus?«, frage ich.

»Nicht jeder will die Wahrheit akzeptieren«, sagt Stankovic und schlägt eine Baumpflanzaktion vor dem Bundestag als angenehmeren Protest vor, bei der er dabei wäre. »Also, das könnte zwar nur am Wochenende geschehen, weil ich unter der Woche meine Priorität im Deutschen Bundestag habe. Aber am Wochenende: klar.«

Danke für das Gespräch.

ARON BOKS war zehn Tage unterwegs in Städten, Wohnungen, ­Kneipen und Spätis auf der Suche nach politischer Zukunft und hatte seine Kamera dabei. Die Reportage wurde ermöglicht von der taz Panter Stiftung.

Dieser Beitrag ist im Dezember 2022 in taz FUTURZWEI N°23 erschienen.