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Archiv-Artikel

Unterwäsche stricken Flaschen vom Vorjahr

Im Knast könnt ick mir ausruhn

Ich sitze gerade in einem Café in meinem neuen Kiez in Weddingnähe und muss dringend einen überfälligen Text für die überregionalen Seiten dieser Zeitung schreiben. Zu Hause arbeiten geht gerade nicht, da lauert meine kranke Tochter.

Bis eben lief es noch ganz gut, aber plötzlich geht ein Film los, so unwirklich wie Jack Nicholson und Meryl Streep in „Wolfsmilch“, extra für mich, ein Willkommensgruß.

Es kommen zwei Leute mittleren Alters rein. Beide tragen Schirmmützen und haben je einen Hackenporsche dabei, den sie gekonnt unterm Stehtisch parken. Sie stellen sich in Positur und fangen an, laut miteinander zu berlinern.

Er: Der Fritz hat ja ooch gar keen Geld mehr. Sie: Nee? Er: Nee. Musste Alimente zahlen. Sie: Ick hab noch bisschen was druff. Er: Hab ooch noch siebzig Euro druff. Und ick hab noch 86 leere Flaschen vom vorigen Jahr. Sie: Brauchst du ja jar nicht mehr arbeiten gehen, wa. Er: Nee, bis zur Rente nicht.

Sie: Bei mir läuft der Rentenantrag schon. Er: Hab schon zwee Anträge jeschickt jehabt. Sie: Ick müsste mal wieder zur OP. Hab nur gerade keene zehn Euro. Er: Ick müsste mal wieder in den Knast. Da könnt ick mir ausruhen. (Laut rufend): Junge Frau, was haben Se denn für Kaffee?

Hier gibts’s Latte macchiato, Cappuccino und den ganzen anderen Rest, den es überall gibt, will ich schon einwerfen, da ruft die Bedienung: Na, Schwarzen. Oder auch mit Milch und Zucker. Er: Na denn mit Milch, wa. Sie: Zu Hause habe ick keenen Kaffee mehr. Auch keene Milch. Und auch keen Zucker. Er: Bei Real jibt’s den Kaffee gerade für zwo 49.

Sie: Ach Mensch, ick hab zu Hause schon den Strick rausgelegt. Er: Ick muss mir auch mal wieder was stricken. Sie: Mit der Strickliesel? Er: Ja. Wolle hab ick ooch schon jekauft. Sie: Was willst du dir denn stricken? Er: Unterwäsche. SUSANNE MESSMER