: „Unterlassene Hilfe ist ein Verbrechen“
VERANTWORTUNG Der Flüchtlingsexperte Pezzani macht die europäische Politik der geschlossenen Grenzen für die vielen Toten auf dem Mittelmeer verantwortlich, denn sie treibt den Schleusern die Menschen in die Arme
■ 31, forscht am Londoner Goldsmith College. Mitarbeit an der Datenbank „Watch the Med“, die die EU-Seegrenzen im Mittelmeer beobachtet. www.watchthemed.net.
taz: Herr Pezzani, immer wieder sterben Hunderte Menschen im Mittelmeer. Weshalb?
Lorenzo Pezzani: Der Grund ist Europas Politik der geschlossenen Grenzen. Die Menschen kriegen keine Visa. Also müssen sie heimlich nach Europa kommen. Hinzu kommt, dass die Küstenwachen oft nur sehr spät auf Notrufe reagieren, obwohl das Seegebiet eines der am besten überwachten der Welt ist.
Sind nicht auch die Schlepper schuld, die die Menschen auf brüchigen Booten losschicken?
Dass es Schlepper gibt, ist die Folge der Schließung der Grenzen. Gäbe es sie nicht, würden die Leute sich solche Boote eben selbst organisieren.
Welche Rolle spielt dabei die EU-Grenzschutzagentur Frontex?
Frontex hat das Mittelmeer in eine militarisierte Grenze verwandelt. Dabei ist klar, dass es nicht möglich ist, das Meer komplett abzuschotten. Man beschränkt sich deshalb auf die kürzesten, leichtesten Wege. Die Migranten müssen dann auf längere und gefährlichere Routen ausweichen. So treibt man den Preis für die Passage immer höher.
Überlebende berichten oft, Boote seien an ihren vorbei gefahren, statt sie zu retten.
In den letzten Jahren wurden viele Menschen, die Papierlosen …
… Menschen ohne Pass …
… aus Seenot gerettet haben, als Schlepper kriminalisiert oder daran gehindert, in einen Hafen einzulaufen. Dadurch ist natürlich unter Seeleuten die Bereitschaft zu helfen immer geringer geworden.
Sie versuchen mit Ihrem Projekt „Watch the Med“, das Sie als „forensische Ozeanografie“ bezeichnen, etwas gegen das Sterben im Mittelmeer zu unternehmen. Wie muss man sich das vorstellen?
Wir versuchen das, was auf dem Meer geschieht, sichtbar und nachvollziehbar zu machen. Es ist eine Art zivilgesellschaftliche Geodatenbank, ein kartenbasiertes Informationsportal, auf dem wir alle verfügbaren Daten zu Flüchtlingsbooten, zur kommerziellen Schifffahrt und zur Überwachung sammeln. Daran können sich die MigrantInnen selbst beteiligen, Angehörige, aber auch NGOs, Privatpersonen oder Seeleute.
Was nützt die Datensammlung? Im Idealfall können wir so dabei helfen, Küstenwachen zu alarmieren, wenn ein Schiff in Seenot gerät, und Druck zu machen, dass sie auch tätig werden. Wir versuchen auch, vergangene Fälle zu rekonstruieren, ihre Routen zu lokalisieren. So wollen wir beantworten, wer für Todesfälle verantwortlich ist: Warum hat beispielsweise die Küstenwache Maltas nichts unternommen, warum ist ein bestimmter Frachter einfach an dem Boot vorbeigefahren? Damit können wir in Zukunft die Öffentlichkeit und die Angehörigen informieren, aber solche Fälle hoffentlich auch juristisch aufarbeiten. Denn unterlassene Nothilfe auf See ist ein Verbrechen.
INTERVIEW: CHRISTIAN JAKOB