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Unter der Diskokugel

Till Raethers Roman „Disko“ ist eine Zeitreise in die 1970er, als München Hauptstadt eines neuen Sounds wurde

„Love to Love You, Baby“ Foto: R. Creamer/M. Ochs Archive/getty images

Von Nina Apin

Als Beeke sich früh um fünf an die Landstraße stellt, zwischen Seutendorf und Plön, wo die LKWs von der Fähre aus Dänemark auf dem Weg nach Hamburg durchkommen, hat sie eine Erbswurst und ein Kissen im Rucksack, ein Englischbuch – und ein Foto ihres Bruders in Feuerwehruniform. Damit sie das an passender Stelle herumzeigen kann wie ein Fahndungsfoto. Soweit der Plan der 14-Jährigen, die nach München will, wo ihr Bruder lebt. Als Diskoproduzent.

Disko mit K. Mit diesem Wort katapultiert Till Raether seine Le­se­r:in­nen in die Mitte der 1970er, als der Produzent Giorgio Moroder und die Sängerin Donna Summer in den Musicland-Studios in München-Bogenhausen eine neue, synthesizerlastige Tanzmusik kreierten: Mit „Love to Love You, Baby“ ist der Munich Sound geboren. Sein schwüler Glamour dringt bis in die norddeutsche Tiefebene, wo Gerald im Jugendzimmer an Soundmodulen bastelt. Und sich eines Nachts aufmacht; weg von dem tristen Hof im Moor, in dem der Vater säuft, drei kleine Schwestern nerven und die Nazi-Oma Großkordt allen Lebensträumen im Weg ist.

Till Raether: „Disko“. btb, München 2025. 240 Seiten, 24 Euro

Beeke zieht anderthalb Jahre später los, ihren Bruder zu finden. Das kindlich wirkende Mädchen im gelben Anorak ist, das wird nach wenigen Absätzen klar, eine Kämpfernatur, oder, wie man in München sagen würde: Nicht auf der Brennsuppen dahergeschwommen. Dem LKW-Fahrer, dessen Hand zu nah an ihre Geldtasche kommt, verbiegt sie den Finger, eine besorgte Mutti im Abteil bringt sie mit der Wahrheit zum Schweigen: „Ich sagte, meine Mutter ist gestern gestorben, mein Vater trinkt und meine Schwestern sind zu klein, darum hole ich meinen Bruder aus München, der muss sich um alles kümmern. Sie sah mich an, als wüsste sie nicht, was sie mehr bereute: mich gefragt, oder mir vorhin kein hartgekochtes Ei angeboten zu haben.“ Einer Clique junger Leute entlockt sie Chips, warmes Bier – und wertvolle Informationen über die heißesten Läden der Münchner Diskoszene: das Pearly Gates am Englischen Garten, das Kaiser’s Richtung Olympiagelände, das Roxy, die Läden an der Leopoldstraße …

Warmes Bier und die heißesten Läden der Münchner Diskoszene: das Pearly Gates, das Kaiser’s, das Roxy

Beeke ist indes nicht die einzige, die nach Gerald Petersen alias Jerry Peters sucht. Auch die Diskorivalen rund um den „Grafen“ (eine Giorgio-Moroder-Parodie inklusive Schnauzbart und Pornobrille) und seinen fanatischen Sound Assistant Seb sind ihm auf den Fersen – angeblich hat Jerry ihnen einen moog-Synthesizer und eine bahnbrechende Idee geklaut. Parallel zu der mit Tempo und Witz erzählten Aufholjagd entfaltet sich rückwirkend (die ganze Geschichte wird als Mail der alternden Beeke an ihren entfremdeten Bruder erzählt) eine norddeutsche Familientragödie, die ihren Anfang im Hamburg der letzten Kriegsmonate hat und die das spätere Ehe- und Familienleben der Peters vergiftet. Während sich das Drama auf der Tanzfläche zuspitzt, sind sich Bruder und Schwester für einen schwerelosen Moment „unter den tausend Augen der Diskokugel“ ganz nah – um sich später wieder zu verlieren.

Wie schon in den Vorgängerromanen „Treue Seelen“ und „Die Architektin“ erzähl Till Raether mit Leichtigkeit und viel Gespür für Details ein Stück deutsche Zeitgeschichte. An Stellen, an denen es ernst wird, wirkt die Komik manchmal, als wolle sich der Autor vor zu viel Gefühl schützen. Trotzdem gelingen ihm auch herzzerreißende Szenen wie das Wiedersehen der gealterten Geschwister in einer Mehrzweckhalle in Neumünster, wo Jerry Peters im Rahmen einer Retro/Bad Taste Party auflegen soll: „Der Lebenstraum zum ironischen Vergnügen anderer Leute reduziert.“ Die Aussprache misslingt. Der Münchner Discosound aber, das Stampfen, Glitzern und Seufzen, hallt nach dem Lesen noch eine Weile nach.

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