: Unter der Blutbuche
GEDENKEN Als Kind hat unser Autor auf einem Massengrab Fußball gespielt. Darin Menschen, die keinen Mut zu einem Leben nach dem Krieg fanden
VON THOMAS GERLACH (TEXT) & HARALD KRIEG (FOTOS)
Beim Einzug der Roten Armee Anfang Mai 1945 nehmen sich 42 Einwohner der Stadt Möckern im heutigen Sachsen-Anhalt das Leben oder werden von ihren nächsten Angehörigen erschossen oder erhängt. Die Toten werden in einem Massengrab im Schlosspark zwischen Stadtkirche und gräflichem Schloss begraben. Dreißig Jahre später war die mit Schlacke bestreute Fläche, in deren Mitte eine mächtige Blutbuche steht, Bolzplatz geworden, wo Halbwüchsige nach Schulschluss Fußball spielten. Einer davon war ich.
Wir wussten nichts von den Toten. Keiner der Erwachsenen nahm uns zur Seite, keiner ermahnte uns, mit dem Fußball aufzuhören oder wenigstens weiterzuziehen. Keiner erzählte uns, was sich im Mai 1945 zugetragen hatte. Und natürlich wurde in der Schule geschwiegen, die gleich nebenan im Park lag.
Diese Menschen unter der Erde, Männer, Frauen, viele Kinder, waren mehr als tot. Sie hatten sich aufgelöst wie Rauch. Die DDR hatte den Faschismus ausgerottet, strebte dem Sozialismus entgegen und der 8. Mai 1945 war der „Tag der Befreiung“.
Es war um das Jahr 1983, als unser Pastor beim montäglichen Treffen der kleinen Jungen Gemeinde einen unfassbaren Bericht verlas, den der pensionierte Gutsinspektor des gräflichen Schlosses nach den Ereignissen im Mai 1945 verfasst hatte. Er berichtete darin, wie er von den Russen beauftragt wurde, die Toten einzusammeln und im Park zu begraben. Dort, wo die Jungen kickten, dort lagen Tote. Besonders erschütternd war der Fall eines Mannes, der zwar seine Familie erschossen hat, aber seinen eigenen Kopfschuss überlebte.
„Ja, das war der Zahnarzt Paul Wünsche“, sagt Ernst Theuerkauf bedächtig. „Er hatte sich den Sehnerv durchschossen und war erblindet.“ Theuerkauf sitzt im Pfarrhaus, in dem längst der Nachfolger wohnt. Er hat es als Treffpunkt vorgeschlagen, vor sich eine Abschrift des Berichts. Theuerkauf, 75 Jahre alt, ist ehemaliger Bahnhofsvorsteher und Mitglied einer kleinen Arbeitsgemeinschaft, die sich mit der Stadtgeschichte beschäftigt. Auf den eineinhalb Schreibmaschinenseiten ist eine Apokalypse beschrieben.
In den ersten Maitagen 1945 stoßen sowjetische Verbände dorthin vor, wo die Elbe einen Bogen nach Westen beschreibt. Das Land östlich davon ist eines der letzten Gebiete, die die Rote Armee erobert. Während am Westufer Amerikaner und Briten stehen, ist am Ostufer für die Bewohner der Krieg noch nicht vorbei. „Der Kampf um die Reichshauptstadt ist beendet“, verkünden am 4. Mai die Volksempfänger. Einen Tag später besetzen sowjetische Truppen Möckern und quartieren sich im Schloss ein.
Der Lehrer Ernst Treschau und der Tierarzt Dr. Sellnick löschen noch am selben Tag ihre Familien aus. Der Lehrer erschießt seine 24 Jahre alte Tochter Gertraud, seine Frau Johanna und sich selbst. Der Tierarzt und seine Frau vergiften sich. Es ist wie ein Präludium, dem Tags darauf die Katastrophe folgt. Am 6. Mai erschießt Paul Golze, der Besitzer der Wassermühle, seinen 14-jährigen Sohn, seine beiden 21 und 23 Jahre alten Töchter, seine Frau und sich selbst. Der Bäckermeister Otto Strobach erschießt seine Frau, seine beiden Töchter und zwei Enkelkinder, vier und ein Jahr alt, und sich selbst. Die Hebamme erschießt ihre acht und zehn Jahre alten Kinder und sich selbst. Der Automechaniker löscht seine Familie aus. Die Apothekerwitwe stirbt durch Gift. Der Drogist erhängt sich. Der gräfliche Gärtner auch. Auch Zahnarzt Paul Wünsche erschießt Frau, Tochter und Enkelin. Nur bei sich selbst gelingt es ihm nicht.
Am 8. Mai sterben die Letzten durch eigene Hand. Der Gutsinspektor zählt 41 Tote. Der Zahnarzt ist noch nicht darunter. „Mir war sofort klar, dass dieser unglückliche Mensch nicht am Leben bleiben konnte“, schreibt der Inspektor. Helfer bringen den Dentisten zum Arzt, „damit er ihm eine richtige Spritze verabfolgen sollte“. Nach der zweiten Injektion stirbt der 49-Jährige.
„Da die Leichen schon mehrere Tage lagen, war der Befehl ergangen, dass dieselben beerdigt werden mussten“, berichtet der Gutsinspektor weiter. „Es fanden sich viele, die das Grab machen wollten, aber die Leichen zusammenholen, da wollte keiner heran.“ Er griff sich einen Kurzsichtigen, einen Geistesschwachen und einen Taubstummen. „Also mit einem Halbblinden, einem Dummen und einem Stummen, dazu ein sehr lahmes Pferd der gräflichen Verwaltung, haben wir die Arbeit … aufgenommen.“ Die Toten wurden zum Park geschafft und in die Gruft gelegt. Nur zwei der Toten kamen auf den Friedhof. Der Konrektor sprach ein Vaterunser. Es war der 8. Mai 1945. „Für mich war es die schwerste Arbeit meines Lebens“ schloss der Oberinspektor den Bericht, Überschrift: „Ein schwarzer Tag, wie ihn Möckern noch nicht erlebt“.
Etwa 2.000 Einwohner hatte Möckern 1945, zwei Prozent der Bewohner hatten sich binnen Tagen das Leben genommen oder wurden von ihren nächsten Angehörigen getötet. Lehrer, Tierarzt, Apotheker, Zahnarzt, Kaufmann, Rentmeister, Drogist – viele gehörten zur kleinen Oberschicht der Ackerbürgerstadt. Sie wurden im Park begraben – und vergessen.
„Heute decken große Abfallberge die Ruhestätte dieser Toten, die 1945 die Nerven verloren und nicht mehr den Mut zum Weiterleben fanden“, notiert später der Stadtchronist. Bald wird der Ort zum Bolzplatz. Ernst Theuerkauf erinnert sich, dass das Grab anfangs noch nicht eingeebnet war. Sogar eine Umfriedung habe es gegeben. Mitte der siebziger Jahre ist davon nichts mehr übrig. Im Park entsteht eine neue Schule. Das Schloss wird Außenstelle des Staatsarchivs, im Untergeschoss richtet die Schule einen Werkraum ein. Der Schlosspark ist zum „Volkspark“ geworden. Lehrer eilen nun über die Wege.
Mit wuchtigen Schritten hastet mein Schuldirektor zum Unterricht. Der massige, untersetzte Mann von sechzig Jahren, der stets mit SED-Parteiabzeichen vor die Klasse tritt, war Bergmann in Ruhrgebiet, später Kampfgruppenkommandeur. Als Studienrat unterrichtet er Geschichte. Der Klassenkampf, die Arbeiterbewegung, die Große Sozialistische Oktoberrevolution, die KPD, der Faschismus, der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, die antifaschistisch-demokratische Umwälzung, der Aufbau des Sozialismus – das ist Kanon und Evangelium zugleich. „Stalin bricht Hitler das Genick!“ Bebend zitiert er das Thälmann-Wort. Nein, sein Prophet hat sich nicht geirrt.
Die DDR hat die Lehren aus der Geschichte gezogen. An der Seite der Sowjetunion strebt sie einer lichten Zukunft entgegen. Mit ihrem opferreichen Sieg 1945 hatte die Sowjetarmee die Voraussetzung geschaffen. Dafür gebührt ihr ewiger Dank. Der Unterricht fließt in ruhiger, breiter Bahn dahin. Zweifel sind nicht vorgesehen. Der Direktor reckt seine Arme und rudert ausgreifend in der Luft, immer wieder, als würde ihm ein mächtiges Steuer gehorchen. „Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen!“ Erfüllt von eigener Gewissheit deklamiert er das oft, bevor er uns in die Pause entlässt.
Was hatte der Direktor eigentlich vor 1945 gemacht? Diese Frage hat keiner gestellt. Das Rad der Geschichte donnerte vorwärts. Wer konnte da von denen reden, die im Park lagen? Die Alten taten es nicht. Wir Jungen wussten es nicht. Faschisten, alte und neue Nazis, Kriegstreiber und Monopolkapitalisten gab es nur in der „BRD“, einem Land ohne Zukunft. So bläute es uns der Direktor ein. Die Mörder von Ernst Thälmann lebten dort unbehelligt, Nato und die USA schützten diesen ruchlosen Staat.
Die Bäckerdynastie
Wer waren die Menschen, die den „Zusammenbruch“ nicht überleben wollten? Von Abschiedsbriefen ist nichts bekannt. Rolf Strobach ist im Pfarrhaus dazugestoßen. Strobach, ein agiler Mann, hat lange in der Stadtpolitik mitgemischt. Sein Großvater war der Bäcker, der Frau, Töchter und Enkel erschoss. Die Strobachs waren eine Bäckerdynastie. Der Großvater besaß die Bäckerei in Möckern, der Sohn, Rolf Strobachs Vater, hatte eine in Magdeburg. Doch der wurde in Russland vermisst. Seine Frau und der fast fünfjährige Rolf waren bei Verwandten auf der westlichen Elbseite untergekommen.
„Mach Schluss!“ Mit diesen Worten soll seine Großmutter ihren Mann ermutigt haben, erzählt Strobach. Der eine Sohn war in Italien gefallen, der andere, Rolfs Vater, in Russland vermisst. Blieben die beiden Töchter Erika und Lore, 31 und 19 Jahre alt. Erikas Mann war in Frankreich gefallen. Und Lore? „Das Lorchen war ein wunderschönes Mädchen“, sagt Strobach. Was wird aus „Lorchen“? Letztlich war es wohl die Angst vor Schändung und Vergewaltigung, die die Großeltern verzweifeln ließ, vermutet Rolf Strobach.
Strobachs Einschätzung deckt sich mit Florian Hubers Bewertung. Der Historiker hat in dem Buch „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ die Selbstmordwelle 1945 beleuchtet. Angst, Propaganda, Schuldgefühle, alles verstärkt von einer düsteren Hysterie, haben die Menschen in den Tod getrieben. Angst vor Rache, weil die Deutschen ahnten, wie Söhne, Väter und Brüder in den eroberten Gebieten gewütet hatten. Die Propaganda vor den bolschewistischen Untermenschen wirkte ebenso als Verstärker wie die Berichte von Flüchtlingen über Plünderungen und Vergewaltigungen durch russische Soldaten. Schuldgefühle über das eigene Verhalten kamen hinzu und vielleicht die Scham, blind einem Lump gefolgt zu sein.
Das Drama von Möckern schien allen, die davon wussten, singulär. Von der Apokalypse, die sich in Demmin in Vorpommern ereignete und von der Huber in seinem Buch erzählt, hatte keiner gehört. Vielleicht 900 Einwohner und Flüchtlinge, vielleicht weit mehr als tausend, haben sich erhängt, erschossen oder ins Wasser gestürzt.
Eine Nachbarin erzählte Rolf Strobach vom Ende der Großeltern. Der Bäcker heizte den Ofen, buk Brot, legte die Laibe in den Laden und heftete einen Zettel ins Fenster: Jeder kann sich bedienen. Im Obergeschoss tötete er seine Liebsten und sich selbst. Alle trugen Sonntagsstaat.
Von einer NSDAP-Mitgliedschaft des Großvaters weiß Rolf Strobach nichts. Über eine Parteimitgliedschaft der anderen Toten ist wenig bekannt. „Soweit ich weiß, soll der Mühlenbesitzer NSDAP-Mitglied gewesen sein“, sagt Strobach vorsichtig. Man kann davon ausgehen, dass es unter den Toten Parteigenossen gab, immerhin gehörten die Familien zur bürgerlichen Schicht der kleinen Stadt. Doch unter den 42 Toten fanden sich eben auch zehn Kinder.
Möckerner Ärzte
Zumindest ein Arzt in Möckern war aktiver Nazi. Im Frühjahr 1941 trommelte er die Hitlerjugend zusammen und warb in schwarzer SS-Uniform für die Waffen-SS. 33 Jungen haben sich sofort gemeldet. Der Allgemeinmediziner wurde später Lagerarzt in einem nahen Kriegsgefangenenlager. Zu den Toten im Park gehört er allerdings nicht. Die Sowjets verurteilten und deportierten ihn. 1956 kehrte er nach Möckern zurück, praktizierte bis ins hohe Alter und starb 1995 mit 103 Jahren. Am 100sten Geburtstag verlieh ihm die Stadt Möckern die Goldene Ehrennadel. In dem Haus, wo er lebte, erinnert eine Tafel an ihn. Zahnarzt Wünsche und Tierarzt Sellnick hingegen liegen im Park.
Der Erste, der nach 1989 das öffentliche Schweigen brach, war mein Pastor Martin Gregor, der uns Jahre zuvor mit dem Bericht so verstört hatte. Gregor, Jahrgang 1931 und Flüchtlingskind aus Schlesien, lud zu einer Andacht in den Park und verlas die Namen der Toten.
Auch Rolf Strobach, für die FDP im Stadtrat, bemühte sich um ein Gedenken. Er rätselt heute noch darüber, warum die Diskussionen im Rathaus im Sande verliefen. Mal gab es Wichtigeres, mal war kein Geld da. Strobach wollte, dass der Ort als Begräbnisplatz sichtbar wird. Irgendwann hat er dann einen Kranz niedergelegt. „Nicht personenbezogen“, wie er betont. Strobach fand den Kranz bald im Gebüsch. Vielleicht ahnte der 74-Jährige da, dass es verborgenen Widerstand geben könnte. „Der Park ist kein Friedhof!“ Das habe er mal aufgeschnappt, erzählt Strobach. Vielleicht gab es auch Ängste vor einer Pilgerstätte für alte und neue Nazis. Immerhin – ein Findling wurde herbeigerollt und ein Ginkgobäumchen gepflanzt. Einen klaren Hinweis auf die Toten gab es nicht. Der Ginkgo wurde mehrfach ausgerissen.
Rolf Strobach und Ernst Theuerkauf sind auf die Straße getreten, laufen über den Amthof. Es geht hinüber zum Parkeingang, wo der Schriftzug Volkspark wieder durch Schlosspark übermalt ist. Im Schloss ist auf allen Etagen die Grundschule eingezogen.
Die Blutbuche, noch ohne Laub, breitet ihre Äste, als wollte sie etwas beschützen. Der alte Bolzplatz ist mit Gras bewachsen. Strobach weist zur Feldsteinmauer, die das Pfarrgrundstück vom Park abgrenzt. Vor der Mauer liegt das Grab, nach einer damaligen Liste war es für die 40 Toten ganze dreizehn Meter lang. Die Angaben zur Lage der Toten sind zentimetergenau. Der Erste, der ins Grab gelegt wurde, war der Gärtner des Grafen. Dann folgt die Müllerfamilie, dann der Lehrer, der Automechaniker, dann Familie Strobach. Zahnarzt Wünsche liegt von seiner Familie getrennt am Meter 11,60. Die Letzte ist die Hebamme mit ihren Kindern. Die Toten müssen seitlich aneinander gelegt worden sein. Anders lassen sie sich nicht so eng begraben.
2008 hat Rolf Strobach genug von seinen Anträgen im Stadtrat. Auf eigene Kosten lässt er eine Platte gießen. Doch was soll darauf stehen? Alle Namen? Strobach zieht einen Schriftsteller aus Möckern zu Rate. Mit Erlaubnis des Stadtrates befestigt Strobach an einem Septembertag 2008 die Tafel an der Mauer. Der Bürgermeister, der Lokalredakteur und ein paar Einwohner, die dabei sind, lesen: „Zerstörte Lebensläufe – Was wäre aus ihnen geworden? – Ruhestätte von 40 Möckeraner Einwohnern“.
Gleichzeitig beauftragt Strobach den Schmiedemeister, auf dem Findling ein Kreuz zu befestigen. Bald ist es wieder abgeschlagen. Der Schmied fertigt ein neues. Auch das ist bald weg. Wieder kommt der Schmied. Wie immer verankert er es solide im Stein. Im Vorbeigehen tritt das keiner ab, man muss schon mit Hammer und Meißel anrücken. „Wer macht so was? Junge Leute?“, fragt Strobach und schüttelt den Kopf. „Die wissen das doch nicht.“ Der Stein wird ohne Kreuz bleiben. „Ich hab’s aufgegeben.“ Strobach blickt auf. Hinter der kleinen Allee sind Schulkinder. Sie spielen Fußball.