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Unter den Linden herrscht wieder Staatssicherheit

■ Bei den Pfingstunruhen wurden bisher „unbeschriebene Blätter rasant politisiert“/Behörden arbeiten an einem Profil der Protestierenden/ Die meisten Festgenommenen sind inzwischen wieder frei/Artikulation eines Lebensgefühls, das „für die Zukunft hoffen läßt“

Aus Ost–Berlin Theo Rüppeli jr.

„Es ist schon mühsam, Informationen über das Schicksal der Festgenommenen herauszubekommen“, seufzt eine derjenigen, die sich für die Opfer der Pfingstdemonstrationen einsetzen will. „Es geht ja nur, indem jeder in unserem Kreis versucht, möglichst viele Leute anzusprechen, Einzelbeispiele zusammenzutragen, Tendenzen daraus zu entwickeln. Und nach diesen Informationen sind inzwischen viele der Festgenommenen wieder freigelassen. Wie viele aber überhaupt festgenommen wurden, was ihnen passiert ist, wie viele geschlagen, nur verhört oder schon nach der Feststellung der Personalien freigelassen wurden, wie viele noch im Knast sitzen, ist uns somit nicht bekannt.“ „Vorhin erzählte uns ein Freund, daß drei von acht festgenommenen Bekannten inzwischen wieder frei sind und daß er für heute abend mit der Rückkehr der übrigen rechnet.“ Das scheint jetzt die Tendenz auch bei anderen zu sein.“ In einer Ost–Berliner Wohnung hat sich am Mittwoch nachmittag ein Freundeskreis eingefunden, der versucht, die Erfahrungen und Kenntnisse jedes einzelnen zu einem Bild über das Geschehen zu formen. Es kristallisiert sich heraus, daß es wohl eher nicht im Interesse der Behörden ist, Exempel zu statuieren, sondern daß versucht wird, an einem Profil der an dem Protest Beteiligten zu arbeiten. Denn die meisten „Rockfans“ waren bisher „unbeschriebene Blätter“, Jugendliche, die vorher wohl nie in eine politische Aktion verwickelt waren, die über den Gang der Ereignisse selbst zur Aktion getrieben wurden. „Die waren ein repräsentativer Querschnitt der DDR–Jugend, wenigstens an den ersten Tagen. Am dritten Tag kamen einige aus der politischen Szene hinzu, doch das Geschehen war davon kaum beeinflußt“, gibt einer zu bedenken, der, selbst um die vierzig, am Montag im Spalier der Neugierigen gestanden hatte. „Mit ihrer modernen, konformen Kleidung, mit ihren Frisuren, die sich ja keineswegs - wie noch vor Jahren bei den Punks - äußerlich von anderen unterscheiden, ist für die Behörden ein neues Phänomen aufgetaucht. Diese Leute unterscheiden sich im Habitus nicht vom Rest der Bevölkerung.“ Deshalb, so einigt man sich, sei es wahrscheinlich, daß Volkspolizei und Staatssicherheit die Festgenommenen nach ihren sozialen Bezügen befragt haben. Neue Karteien werden angelegt, Zusammenhänge konstruiert, Eltern und Schule informiert und verwarnt, und man versucht, einzelne als Spitzel anzuwerben. Der Tatort, das Gelände um Unter den Linden/Glinkastr. mit seinen „anliegenden Schutzwallstreifen“ ist inzwischen fest im Griff der Volkspolizei. An jeder Ecke sind Doppelstreifen postiert, Spaziergänger und in Hauseingängen Rauchende sehen nicht gerade danach aus, als seien sie zufällig hier vorbeigekommen. „Hier habe ich micht mit einem Trick durch die Polizeikordons geschmuggelt“, berichtet mein Begleiter, „indem ich tat, als wäre ich ein besorgter Vater, der seinen Filius in dem umstellten Haufen suchte. So bekam ich mit, wie Leute abstransportiert wurden, einige haben schlimme Prügel bezogen. Greiftrupps aus jungen Stasibeamten arbeiteten blitzschnell. Fotografen machten ganze Arbeit. Was mich so fasziniert, ist die rasante Politisierung, die hier stattgefunden hat. Nun ist ja nicht nur der Knüppel erkenntnisfördernd, die Sprechchöre und das, was gesagt wurde, drücken ein Lebensgefühl aus, das auch für die Zukunft hoffen läßt.“ Es handele sich dabei nicht um die Geburtsstunde einer neuen Bewegung, sondern um die Artikulation von Lebensgefühl, das subversiv mit den Widersprüchen der DDR– Gesellschaft umgegangen sei. „Wir haben hier eine dynamische Entwicklung erlebt.“ Während der Protest am ersten Tag noch unmittelbar vor sich gegangen sei, sei am zweiten Tag mit den „Mauer weg“– und „Gorbatschow“–Rufen bewußt provoziert worden. „Als am dritten Tag das Publikum Das ist ja hier wie Chile, oder Prinz Albrechtstr. rief - dort lag ja das Gestapohauptquartier - zeigte der Protest eine politische Tendenz, die schon gar nicht mit rechts abzuqualifizieren ist.“ Und der Bezug auf Gorbatschow halte der Führung den eigenen Spiegel vor. Die Frage sei eben, wie lange das Umgehen mit dem Symbol für eine Reform unterdrückt werden könne. Erst vor einigen Tagen habe ein DDR–Bürger die Ausreiseerlaubnis erhalten, nachdem er sich auf einem Seminar mit der Reform in der Sowjetunion beschäftigt habe. Gorbatschowbilder, die am 24. April in Berlin auf Mauern und Wände geklebt worden waren, seien sofort abgerissen worden. Noch heute fahnde man nach den Tätern. „Daß die Regierung meint, die Vorfälle als ein Produkt der westlichen Medien abtun zu können, zeigt, wie überrascht sie war. So dumm können die eigentlich auch nicht sein.“ In einer Kneipe versucht eine andere Gruppe von politisch interessierten DDR– Bürgern Bilanz zu ziehen. „Wenn das alles Hirngespinste der westliche Presse waren, dann hast du hier mindestens zwei dieser Exemplare vor dir“, juxt einer in Anspielung auf die DDR–Pressepolitik, für die anfänglich die Ereignisse gar nicht existierten. „Und doch hat die westliche Presse eine Rolle gespielt. Die Jugendlichen haben sie nämlich als ihr Sprachrohr begriffen. Kaum zeigte sich eine Kamera, schon drängte sich alles, in die Mikrophone reden zu können.“ Ist diese Dialektik von Aktion und westlicher Presse nicht der „Hauch vom 17.Juni 1953“, der am Mittwoch in der taz beschworen wurde? „Nein, denn damals ging es ja auch noch um die nationale Frage, die Wiedervereinigung, das Aufheizen durch den RIAS damals hatte ja eine ganz andere Qualität. Was wir heute erleben, ist die Selbstartikulation von DDR–Jugend.“ Ganz gemäß ihren Interessen hätten die „Rockfans“ die Westmedien eingesetzt und dabei keinerlei Berührungsängste gezeigt. Mit dem Bekanntwerden der Rangeleien am Samstag abend sind sicherlich Zuhörer für den Sonntag abend angelockt wuden. Die Dynamik, die sich nun entfaltete, wäre ohne die Berichterstattung der Medien nicht möglich gewesen. „Insoweit ist es erklärlich, wenn die Behörden ihren Aggressionen gegenüber westlichen Journalisten freien Lauf lassen. Sie wissen, daß das einzige, was sie nicht beherrschen, die westliche Presse ist. Die Schläge für den ARD–Kameramann sind hierfür ein Symbol.“ Die einzigen? Pfingsten ist vorbei, die Beteiligten sind wieder in alle Winde zerstreut, und der Staat wird sein Bestes tun, das Protestpotential einzuschüchtern. Und dennoch zeigen die Ereignisse erste Risse einer „Stabilität“, auf die die SED bisher so stolz war.

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