Unter Zockern - Ein Besuch im Wettbüro: "Wetten ist Arbeit"
Grelles Neonlicht, graugrüner Filzteppich, Anzeigetafeln, schlichte Holzstühle: Männer jeden Alters hoffen hier auf den großen Gewinn. Zu Besuch in einem Berliner Wettbüro.
Kemal Arayan* ist eine Größe in der Kreuzberger Wettszene, "Wettprofessor" nennen sie ihn, er selbst weist solche Titel zurück. Es ist Mittwochnachmittag, Champions League, für Arayan ein "gewöhnlicher Werktag". Und das bedeutet: Spielpläne studieren, Quoten berechnen, Wettscheine ausfüllen.
Arayan sitzt im "Hattrick" am Kottbusser Tor, eines der vielen Wettbüros, die, obwohl es sie nach dem Willen des Gesetzgebers gar nicht geben dürfte, seit einigen Jahren zur Insigne der urbanen Armuts- und Einwandererviertel geworden sind. 190 illegale Wettbüros nebst einer "hohen Dunkelziffer" hat allein das Berliner Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten gezählt. Hier ist Fußball Männer- und dem Interieur des "Hattrick" nach zu urteilen eine schnörkellose Sache: Grelles Neonlicht, graugrüner Filzteppich, Anzeigetafeln, auf denen Zahlenreihen herunterrattern, schlichte Holzstühle, auf denen Männer jeden Alters wortlos Vordrucke lesen und ausfüllen.
Arayan ist 50, schmächtige Gestalt, buschiger Schnauzbart. Seine Stimme ist sanft, seine Sätze sorgfältig überlegt. Kurz vor dem Putsch von 1980 kam er als politischer Flüchtling aus der Türkei, seit vielen Jahren arbeitet er als Erzieher. Und seit zehn, zwölf Jahren wettet er auf Fußballspiele.
Das Monopol: Laut Rennwett- und Lotteriegesetz dürfen Wetten nur von den Lottogesellschaften der Länder angeboten werden. Private Anbieter sind allein bei Pferderennen zugelassen. Der staatlich lizenzierte Wettanbieter in Deutschland ist Oddset.
Die Sanktionen: Allein in Berlin wurden/werden rund 600 Verfahren gegen illegale Wettbüros geführt. Zwischen 2006 und 2009 wurden rund 300 Büros geschlossen. Im Übrigen, so das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten, hindere "eine rechtskräftige Entscheidung gegenüber Betreiber X nicht den Betreiber Y, einen neuen Laden - ggf. am gleichen Standort - zu eröffnen."
Das Geschäft: Jährlich wird in der Bundesrepublik mehr als eine Milliarde Euro bei Sportwetten umgesetzt. (dzy)
Wer mit Wetten Geld verdienen wolle, dürfe nicht gierig werden, sagt Arayan. Diese Erfahrung habe er von der Börse mitgenommen, überhaupt seien Aktienspekulationen unsicherer. Arayan empfiehlt, pro Schein nur auf ein einziges Spiel zu tippen. Neben internationalen Wettbewerben und Länderspielen wettet der St.-Pauli-Fan nur auf die großen europäischen Ligen, die anderen sind ihm zu unsicher. Für den Abend hat er sich sechs Spiele ausgesucht; 20 Euro Einsatz, 300 Euro Maximalgewinn. Je nach Monat setzt er zwischen 500 und 1.500 Euro ein. Seine letzte Jahresbilanz, so überschlägt er, waren um die 1.000 Euro Gewinn.
Ioannis Tsingos weiß genau, wie viel er verdient hat. Tsingos ist 49, Fernmeldetechniker und wurde in Dresden geboren, ehe er mit seiner Familie in den Westen zog. Heute wohnt er am Westberliner Stadtrand. Er kramt seine sorgsam geordneten Wettscheine hervor: 4.394 Euro Gewinn 2009, ein sehr gutes Jahr.
Wie er das macht? "Erfahrung, Wissen, Glück und Zeit", sagt Tsingos. Seine Arbeit besteht momentan aus seinen vier kleinen Kindern. Und aus Wetten. Er liest die Fachpresse, verfolgt die Teams und studiert Formkurven und Statistiken. "Aber man muss erkennen, wann der Buchmacher einen mit seinen Quoten verleiten will. Und oft werden Quoten nicht ermittelt, sondern vom Computer hingeknallt. Da muss man sehen, wo die Statistik eine Mannschaft zum krassen Außenseiter macht, die in Wirklichkeit gar kein krasser Außenseiter ist." Schließlich seien Statistiken nicht alles. "Ich versuche, mich in die Psychologie der Spieler hineinzuversetzen", sagt Tsingos.
Davon, dass man am Ende im Plus ist, ist man auch am "deutschen Stammtisch" im "Hattrick" überzeugt. Die Champions League hat noch nicht angefangen, Laurenz Roth, ein introvertierter 53-Jähriger im Blaumann, hat Live-Wetten auf zwei Spiele abgeschlossen, die er nur an der elektronischen Quotenanzeige verfolgt. Eines läuft in Ägypten, das andere in der Slowakei. Oder in Kroatien? "Ist egal", sagt er, "da geht man nur nach Bauchgefühl".
Das sei besser als Lotto spielen, meint sein Stammtischfreund Marius Langer, ein 46-jähriger gelernter Straßenbauer, der seit sechs Jahren arbeitslos ist und "den ganzen Tag im Wettbüro" verbringt. Wie Roth betont auch er, dass es nicht um den Gewinn, sondern um den "Spaß" gehe. Dafür, dass das Wort "Spaß" auf Nachfrage hier ziemlich oft fällt, geht es an dieser Tischgesellschaft recht wortkarg zu.
Am Schalter im "Hattrick" hängt ein Plakat: "Wetten kann süchtig machen", dazu eine Telefonnummer der Spielsuchtprävention. Ugur Baris, 29, Jogginganzug, Basecap, steht davor und erzählt, dass er im Monat bis zu 1.000 Euro verwettet - Geld, das der gelernte Maurer mit Hartz IV und Schwarzarbeiten verdient. Ob ihn dieses Plakat nachdenklich stimmt? "Ich habe das noch nie beachtet. Ich sehe nur das andere", sagt er, auf die Zahlenreihen der Live-Wetten deutend. "Und ich setze nicht nur, ich gewinne ja auch."
"Am Ende gewinnt immer die Bank", grinst hingegen Cinar Aygün. Und er muss es wissen. Er sitzt in einem der größten Kreuzberger Wettbüros an der Kasse. Wie hoch die Umsätze sind, will er nicht verraten, aber an einem Champions-League-Tag würden etwa 800 Scheine abgegeben; bei Spielen der Bundesliga seien es bis zu 1.200.
Einen Teil seiner Kundschaft hält der 50-jährige für süchtig: "Die Leute erinnern sich lieber an ihre Gewinne. Und manche machen mit mir um elf den Laden auf und schließen um elf den Laden mit mir. Die setzen hier zwei Euro und da fünf Euro und merken gar nicht, wie viel sie verspielt haben." Ob er solche Leute nicht mal nach Hause schickt? "Das kann ich nicht machen. Außerdem würden die meisten, vor allem die Türken, das als Beleidigung sehen." Gibt es denn Unterschiede zwischen seiner türkischen und deutschen Kundschaft? "Die Deutschen sind hier in der Minderheit, die trauen dem Wetten nicht so ganz. Und die meisten unserer deutschen Kunden setzen fünf und wollen zehn gewinnen. Viele Türken oder andere Ausländer, die wenig Geld haben, wollen mit zwei, drei Euro den Jackpot knacken." Er ist überzeugt: Je weniger man von Fußball versteht, desto besser sind die Chancen.
Dass die Suchtgefahr der Grund für das Verbot der Sportwetten ist, leuchtet Aygün nicht ein: "Wenn das so gefährlich ist, warum bietet der Staat dann selbst Wetten an?", fragt er und antwortet selbst: "Der Staat will den ganzen Kuchen für sich behalten." Der staatliche Anbieter Oddset aber habe in der Woche vielleicht hundert Spiele, so viel würden in seinem Wettbüro jeden Tag angeboten. Außerdem gebe es bei den freien Anbietern viel mehr Wettmöglichkeiten und bessere Quoten.
Probleme mit Lizenzen hat man im "Goldesel" nicht. Gelegen an der Grenze zwischen dem studentischen Friedrichshain, dem bionade-bürgerlichen Prenzlauer Berg und dem Plattenbauviertel Lichtenberg, ist der "Goldesel" eines der wenigen legalen Wettbüros der Stadt. Der Betreiber Bernd Hobiger hatte seine Konzession noch zu DDR-Zeiten erworben, weshalb sie laut Einigungsvertrag Bestandsschutz genießt.
Das Flair ist hier etwas anders: Geraucht wird nicht, neben Fußball werden auch Pferderennen aus drei Ländern sowie englische Hunderennen übertragen. An zwei Wänden hängen Kopien von Wettscheinen, von denen jedes Wetterherz träumt: Im März hat hier jemand mit 300 Euro Einsatz rund 11.600 gewonnen, im Juli hat es jemand mit zwei Euro auf etwas über 4.000 gebracht. An den Fenstern hängen Gardinen, davor finden sich ein paar Topfpflanzen. Deutsche Gemütlichkeit zwischen Altberliner Schultheißkneipe und Bushaltestelle. Auch die Kundschaft ist eher altdeutsch.
Roland Berning nimmt im "Goldesel" die Wetten an. Mit seinem heutigen Chef habe er schon zu DDR-Zeiten auf Pferderennen gewettet. "Aber der war cleverer und hat im richtigen Moment den Laden hier aufgemacht." Im Lauf von 30 Jahren, so schätzt der 58-Jährige mit dem akkurat rasierten Kinnbart und der Lederweste, habe er eine Million Euro verwettet. Ob er noch an das große Glück glaubt? "Ach, iwo. Aber ich rauche nicht, ich habe kein Auto und verheiratet war ich auch nie, warum soll ich nicht wetten?"
An das große Los glauben Niklas Herden, 33, und Simon Fuhrmann, 26, ebenfalls nicht. Die beiden studieren Regie beziehungsweise Drehbuch an der Deutschen Film- und Fernsehakademie und sitzen an diesem Abend in der "Wettarena", einem der neueren Wettbüros mit schmucker Bar. Sie wohnen in der Nähe, im seit geraumer Zeit gerade unter Studenten beliebten Norden Neuköllns. Sie wetten, wie Herden sagt, um beim Fußballgucken die Spannung zu steigern. "Und hier ist es so bodenständig. Das ist doch viel normaler als die Welt in einer Filmhochschule oder in einer Zeitungsredaktion", meint er. Und Furhmann ergänzt mit seinem breiten Schweizer Akzent: "Wir gucken Fußball, wir wetten, wie spielen auch Playstation. Ich kann doch nicht immer nur Godard-Filme gucken."
Auch Memed Gürer hat an diesem Abend seine 20, 30 Euro verwettet – ohne dabei seine Wohnung zu verlassen. "Die Wettbüros haben ihre beste Zeit schon hinter sich", glaubt der 42-jährige Geschäftsführer einer Transportfirma. "Wenn du das richtige Equipment und die richtigen Programme hast, kannst du dir ohne zu zahlen alle Spiele auf den Fernseher laden und dabei live deine Wetten abgeben." Ob ihm da nicht der Austausch mit anderen fehlt? "Schon, aber dafür kann ich mich besser konzentrieren." Und der Spaß? "Wetten ist kein Spaß, wetten ist Arbeit", sagt er.
"Wettprofessor" Kemal Arayan sieht das ähnlich. Nach Abpfiff hat er übrigens drei Richtige – zu wenig, um auch nur seinen Einsatz zurückzuerhalten. Aber morgen ist der nächste Spieltag. Und der ist immer der ertragreichste.
* Alle Namen geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld