Unter Pfadfindern

Fast 20 Jahre saß Heinz Dörmer wegen seiner Vorliebe für junge Männer im Knast – eine biographische Ausstellung im Schwulen Museum  ■ Von Micha Schulze

Da sitzt er, glatzköpfig und etwas hutzelig, in einem geflochtenen Fünfziger-Jahre-Sessel in seiner guten Stube. Akkurat gefaltet fällt die Gardine über die Heizkörper, auf der Kommode thront eine dunkle Stehlampe, eine „Family“- Kekspackung im Regal scheint auf den Besuch der Enkelkinder zu warten. Doch Heinz Dörmer ist alles andere als ein Berliner Opa wie aus dem Bilderbuch: Als schwuler Mann, der 1912 das Licht der Welt erblickte, hat er nur wenig übrig für die Moden, Dresscodes, Regenbogen-Sticker und Jimmy-Somerville-Poster der Szene von heute.

Mit dem 82jährigen Berliner hat sich das Schwule Museum zum zweiten Mal der Lebens- und Leidensgeschichte eines homosexuellen Zeitzeugen dieses Jahrhunderts angenommen. Nach Albrecht Becker, dem am ganzen Körper tätowierten Fotografen und Filmausstatter, wird nun der Pfadfinderführer, Musikalienhändler und Laienschauspieler Heinz Dörmer vorgestellt.

Ganz bewußt kein Promi wie Klaus Mann, kein Vordenker wie Magnus Hirschfeld, kein zwielichter Kopf wie Ernst Röhm, sondern ein gewöhnlicher Schwuler von nebenan. Allerdings jemand, der knapp zwanzig Jahre seines Lebens hinter Gittern und Stacheldraht verbringen mußte – als Rosa- Winkel-Häftling in den Konzentrationslagern der Nazis, als „175er“ in den Strafanstalten der Bundesrepublik.

Der „Berufsverbrecher“ Dörmer liebt nicht nur Männer, vor allem liebt er Jungs. Schon vom zehnten Lebensjahr an verguckte sich der frühreife Sproß aus kleinbürgerlichem Hause vorwiegend in pubertierende Jünglinge. Ausleben konnte er seine Leidenschaft in der bündischen Jugendbewegung, in der homoerotischen Gemeinschaft der Zeltlager und Wanderfahrten. 1932, mit zwanzig Jahren, wurde Heinz Dörmer bereits Gauführer im Ring Deutscher Pfadfinder, und nur ein Jahr nach der Befreiung vom Faschismus baute er wieder eine neue Pfadfindergruppe auf.

Auf dem Einladungskärtchen zur Ausstellung „Und alles wegen der Jungs“ und auch auf dem Katalogrücken wurde der nicht unwesentliche Hinweis auf Dörmers besondere Vorliebe „vergessen“. Offensichtlich scheint sich das Schwule Museum doch ein wenig zu schämen für seinen mutigen Schritt, inmitten einer hysterischen Debatte, in der Pädophilie und Kindesmißbrauch auch in der Schwulenszene gleichgesetzt werden, ausgerechnet die Biographie eines Knabenfreundes herauszustellen.

Wobei kritische Fragen zum Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Pfadfinderführer und seinen Zöglingen leider unterbleiben, sich die AusstellungsbesucherInnen auf Dörmers knappe Versicherung verlassen müssen, daß ihm die Jungs stets freiwillig gefolgt seien.

Natürlich hat es Andreas Sternweiler, der Heinz Dörmer unzählige Male zum Interview besucht hat, nicht einfach gehabt. Nur mit bewundernswerter Geduld und einem beachtlichen Einfühlungsvermögen konnte er nach und nach den schwulen Rentner zum Erzählen animieren.

„Von der anfänglichen Bemerkung, er habe sein ganzes Leben in der elterlichen Wohnung in Kreuzberg verbracht, bis hin zum tatsächlichen Lebensverlauf war es ein langer Weg“, schreibt Sternweiler in seiner Danksagung. Schmerzlich waren nicht nur Dörmers Erinnerungen an die Terrorhölle des KZ Sachsenhausen, schon bei Sternweilers Zwischen- und Nachfragen stockte sein Redefluß, weil er sich an die Verhöre der Behörden erinnert fühlte.

Unzählige Fotos von ihm, seiner Familie und den Jungs, persönliche Briefe, Gerichtsakten und andere Dokumente zeichnen ein präzises Bild des schwulen Mannes, der nur die Zeit zwischen 1929 und 1933 als seine „schönen Jahre“ bezeichnet. Die Ausstellung wie auch der liebevoll gestaltete und ausführlichere Bildband des Verlags Rosa Winkel ist für Dörmer, der sich vergeblich um eine Entschädigung für seine KZ-Haft bemüht hat, eine überfällige Zuwendung, eine späte Ehrung der gay community.

„Schön, daß Heinz bei der Ausstellungseröffnung selbst durchs Schwule Museum lief, daß nicht immer erst Verstorbene geehrt werden“, schrieb eine Besucherin sinngemäß ins Gästebuch. Sosehr der Anmerkung zuzustimmen ist, deckt sie auch eine Schwäche der Ausstellung auf: Über das gegenwärtige Leben und die jüngere Vergangenheit Heinz Dörmers ist kaum etwas zu erfahren.

Werden die 20er, 30er und 40er Jahre in aller Ausführlichkeit dokumentiert, tauchen die Bundesrepublik und insbesondere die Jahre nach der Liberalisierung des Paragraphen 175 nur im Zeitraffer auf. Das jüngere Leben des früheren Pfadfinderführers wird auf das Abonnieren und Archivieren von Zeitschriften wie Du & Ich reduziert. Wie der 82jährige heute seinen Alltag gestaltet, verrät einzig das Farbfoto in der guten Stube, wo Heinz Dörmer im geflochtenen Sessel hockt.

Doch wer schon so viel Privates über einen Menschen erfahren hat, will mehr wissen. Da wünscht man sich nach dem Ausstellungsrundgang nichts sehnlicher, als Heinz Dörmer beiseite zu nehmen und einfach weitererzählen zu lassen: Wie das war nach der Liberalisierung, ob er in die aufstrebende Sub gegangen ist, wo er seine Partner kennengelernt hat. Was er heute hält von offen schwulen Abgeordneten, den einschlägigen Magazinen und der tageszeitung, die im Juni eine reine Homoausgabe erstellt hat. Und was er der jungen Homo-Generation mit auf den Weg gibt außer dem indirekten Fingerzeig, daß sie es heute viel besser hat als er.

Ungeachtet der ausgeblendeten Gegenwart muß sich das Schwule Museum die Frage stellen, ob sich die Reihe der Lebensgeschichten schwuler Männer beliebig fortsetzen läßt. Die denkbare Gefahr, daß sich die Leidensschilderungen der Rosa-Winkel-Häftlinge wiederholen und das Interesse daran verblassen könnte, besteht nur theoretisch. Auch Heinz Dörmers Schicksal, obwohl geläufig, erschüttert aufs neue, fügt mit konkreten Schilderungen ein neues Mosaiksteinchen hinzu in das unvorstellbare Bild des Naziterrors.

Nach dem Besuch dieser Ausstellung bleibt Neugier. Auf die Biographien von schwulen Juden und Kommunisten, von Homosexuellen, die 1933 emigriert sind, von „warmen“ Arbeitern, Künstlern oder SED-Funktionären, die in der jungen DDR gelebt haben. Sterben sie unbefragt, geht mit ihnen auch ein Stück schwuler Geschichte und Erfahrung verloren.

Bis 14.5., Mi.–So. 14-–18 Uhr, Schwules Museum, Mehringdamm 61. Das Buch zur Ausstellung ist im Verlag Rosa Winkel erschienen, hrsg. von Andreas Sternweiler.