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Archiv-Artikel

Unsichtbare Hand, eiserne Faust

Freunde des neoliberalen Minimalstaats werden zu Agenten des strafenden Maximalstaats, wenn sie es mit Verlierern zu tun kriegen. Loïc Wacquant legt eine monumentale Studie über das Bestrafen der Armen vor

„Wir sind nur in dem Maße eine menschliche Gesellschaft und kein Termitenhügel, in dem wir zu Wut und Aufständen fähig sind.“ Yann Moulier Boutang

VON ROBERT MISIK

Verbrechen, Marodeure, Delinquenz allüberall. „Es kann jeden treffen“, so die allgemeine Auffassung. Der Boulevard liefert den täglichen Kitzel. Für die Politik ist es ein gefundenes Fressen.

„Volle Härte“, plakatierte Österreichs Volkspartei im vergangenen Wahlkampf. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy schaffte seinen Aufstieg, weil er sich als „Law and Order“-Politiker positionierte. Aus den USA kommen seit Jahren Politikrezepte mit schneidigem Namen: „Nulltoleranz“ oder „Three Strikes And You Are Out“.

Eine neue Straflust schleicht sich ein, ein „Gefahren-, ja Katastrophendiskurs“, so der aus Frankreich stammende, in Berkeley lehrende Sozialwissenschaftler Loïc Wacquant. Die Gefängnisse quellen über – nach US-Vorbild wird mehr und länger eingesperrt und mehr und mehr Delikte werden unter Strafe gestellt. Diese „Kriminalitätspornografie“ steigert das subjektive Unsicherheitsgefühl, beruhe aber keineswegs auf Tatsachen: Die Nulltoleranz-Politik in den Vereinigten Staaten und der explosionsartige Anstieg der Gefängnispopulation setzten zu einem Zeitpunkt ein, als die Kriminalität bereits begann merklich zurückzugehen. Auch hierzulande stehen die politisch-medialen Panikattacken in einem Missverhältnis zur kriminalstatistischen Realität. Gewaltverbrechen sind seit Jahren rückläufig, alleine die Einbruchskriminalität nimmt zu und der Anteil junger Migranten an der Delinquenz. Wobei Letzteres möglicherweise ein Beobachtungsphänomen ist: Weil mehr hingesehen wird, weil die Toleranz gegenüber Ordnungswidrigkeiten sinkt, steigen die Anzeigen.

Alles Panik also? Oder ist gar System dahinter? Wacquant, ein engagierter Kriminalsoziologe im Geiste Pierre Bourdieus, ist entschieden zweiterer Meinung. Ein veritabler Kampf gegen die Armen spiele sich vor unser aller Augen ab. Die „Bestrafung der Armen“ ist für ihn die düsterste Seite des Neoliberalismus. Das mag widersprüchlich klingen: Ist der Neoliberalismus doch für den schlanken Staat, für den Abbau der staatlichen Autorität. Dieselbe Ideologie, die im Ökonomischen den Minimalstaat favorisiert, soll in der Politik für den strafenden Maximalstaat verantwortlich sein? Kein Widerspruch, so Wacquant: Die „unsichtbare Hand“ ballt sich, sobald sie es mit den Verlierern zu tun hat, zur „eisernen Faust“.

Der Neoliberalismus präsentiert Arme als Täter. Dieser Diskurs zieht sich nicht nur durch die Sicherheitspolitik, sondern auch durch die Sozialpolitik. Wer von staatlicher Wohlfahrt abhängig ist, ist faul und moralisch verkommen.

Auch die Sozialsysteme werden mehr und mehr zu bürokratischen Arrangements modelliert, die die Bedürftigen „kulturell wie Kriminelle behandeln“. Wer auf Hartz IV ist, unterliegt einem ausgeklügelten Kontrollregime, wird mit Sanktionen für jede Form nichtkonformen Verhaltens bedroht, ist intensiven Überwachungsprogrammen unterworfen, die an „Bewährungsstrafen für Verurteilte oder auf Bewährung Entlassene“ erinnern. Der Kampf gegen jede Form der Devianz ist insofern nur ein Element einer umfassenden Ideologie.

Wacquant schildert detailliert und materialreich die Auswüchse dieser Politik. Und er ist ein parteiischer, ein zorniger Wissenschaftler: Dass linksliberale und sozialdemokratische Parteien einstimmen in den Chor, der alle Armen zu potenziellen Tätern und alle Täter zu menschlichem Unrat stilisiert, macht ihn wütend. Und er setzt bekannte Argumente entgegen, die heute leider allzu oft vergessen werden: Mehr und höhere Strafen haben keinerlei Auswirkungen auf die Kriminalitätshäufigkeit. Allenfalls mehr und sichtbarere Polizeipräsenz im Stadtbild kann von dieser Seite zu mehr Sicherheit beitragen. Ohnehin, wenn Kriminalität explodiert, hat das primär mit demografischen Faktoren zu tun. Wo viele Jugendliche unter 25 Jahren auf engem Raum leben, wird die Kriminalität ansteigen. Deswegen explodierte die Gewalt in den Sechzigerjahren in den amerikanischen Innenstadtquartieren – und deshalb ging sie auch wieder zurück. Ansonsten ist Sozialpolitik die einzige nachhaltige Sicherheitspolitik.

Eine intelligente Strategie zur Bekämpfung der Kriminalität muss zur Kenntnis nehmen, schreibt Wacquant, „dass delinquente Handlungen das Produkt nicht eines einzelnen, autonomen Individuums mit abartigen Wünschen oder bösartigen Zielen sind, sondern eines Netzes von vielen verschiedenen, nach ganz unterschiedlichen Logiken verknüpften Ursachen und Gründen“. Somit bräuchte es auch vielfältige Gegenmittel. Wer so vernünftig argumentiert, der darf heute freilich damit rechnen, dass man ihm vorhält, er würde „die Täter entschuldigen“.

Tatsächlich produziert der Neoliberalismus die Verbrechen, die er zu bekämpfen vorgibt: Wer Menschen in Chancenlosigkeit hält, braucht sich über die Folgen nicht zu wundern. Wer die Bedürftigen – am Sozialamt, in der Polizeistation, vor Gericht – als Objekte staatlicher Reglementierung behandelt und nicht mit Respekt, wird die intuitive Loyalität zur staatlichen Ordnung untergraben, auf der letztlich jede Rechtsordnung beruht. Würden die Menschen die Gesetze nur aus Angst vor Strafe befolgen, es herrschte Gewalt und Chaos – denn so viel Polizei kann man gar nicht auf die Straße schicken, um dann noch Sicherheit zu gewährleisten.

Wer den Exkludierten auch noch polizeilich nachstellt, wird deren Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, nur verstärken. Schließlich: Wer zu hart und zu schnell einsperrt, raubt der Gefängnisstrafe ihre abschreckende Wirkung. Wenn in bestimmten Vierteln aus jeder Familie jemand einsitzt, dann „verkehrt sich die negative symbolische Besetzung der Gefängnisstrafe in ihr Gegenteil“ – dann wird die Gefängnisstrafe zum „Abzeichen männlicher Ehre“.

Loïc Wacquant: „Bestrafen der Armen. Die neue Regierung der sozialen Unsicherheit“. Aus dem Französischen von Hella Beister. Verlag Barbara Budrich, Leverkusen 2008, 360 Seiten, 29,90 €