: Unsicher hupt die Macht
200 Meter von der Hessischen Botschaft entfernt wird die Geschichte neu geschrieben. Denn im Innersten der Hauptstadt ändern sich die Spielregeln – oft ziemlich rasant
Vor dem Hotel Berlin stieg eine Dame ein und wollte zu einem Empfang in die Hessische Landesvertretung. Sie war spät dran und hatte es äußerst eilig. Am Potsdamer Platz überholte ich den Rush-Hour-Stau erst ganz rechts auf der Busspur, hangelte mich dann langsam zwei Fahrstreifen weiter und verharrte lauernd rechts neben der Linksabbiegerspur, die von einer Kolonne dunkler Blaulichtlimousinen okkupiert war. Es wurde grün, ich blinkte, drängte mich gegen den Widerstand hilflosen Gehupes unwiderstehlich zwischen das erste und zweite Fahrzeug der Kolonne und hob zynisch dankend die Hand – ich Revoluzzer hatte die Bonzen klassisch ausgebrunzt!
Sofort gingen hinter mir Blaulicht und Sirene an und eine Stimme sprach durch ein Mikrofon: „Fahren Sie bitte rechts ran!“ Die Stimme begründete dies nicht näher. „Nö“, dachte ich. Es handelte sich erkennbar nicht um Polizei. „Fahren Sie rechts ran und lassen Sie uns vorbei!“ Heul doch! Warum hätte ich sollen? Ich hatte mich doch schließlich gerade erst vor ihn gesetzt. „Lassen Sie uns vorbei!!“ Er hörte nicht auf zu zetern.
Hatte ich was verpasst? Wurden nun auch in Deutschland die Straßen von halb offiziellen paramilitärischen Banden kontrolliert, die sich das Recht nahmen, wo sie konnten? Man kann ja nicht immer alles mitbekommen! Ich wurde unsicher und fuhr rechts ran.
Eine sinnloses Einlenken, nur 200 Meter vor der Hessischen Landesvertretung. Die Limousine überholte mich und ich schob mich hinter sie. Sofort war ich wieder obenauf. Ich würde nicht locker lassen: Ich war der Rächer der Entrechteten, ich war Michael Kohlhaas, Nelson Mandela, Winnetou, Regine Hildebrandt, Robin Hood, Captain Kirk Cobain, Jesus Christus! „Fühlst dich wohl stark mit deinem blauen Riesenpimmel, was?“, höhnte ich und vollführte dabei in den Rückspiegel meines Kontrahenten hinein Handbewegungen, die ich für clownesk hielt.
Meine Kundin war so tief in den Rücksitz gesackt, dass das Kunstleder sie wie Treibsand verschluckte. Kurz darauf waren wir da und ich kassierte plus Eilzuschlag. Als ich aufblickte, stand der Klassenfeind neben dem Fahrerfenster: Ob ich schon kassiert habe? Ich bejahte. „Haben Sie eigentlich schon mal vom Straftatbestand der Nötigung gehört?“ „Nö.“
Eine coole Replik! Ich hatte ihn voll in der Tasche: Mit diesem einzigen kurzen Wort hatte ich abertausende Generationen für die unbotmäßige Unterdrückung gerächt, die sie Milliarden Jahre lang ertragen musste – Wahnsinn! Bestimmt hatte er eine Waffe und hätte mich jederzeit erschießen können oder gar müssen. Das war mir egal – die Geschichte lehrt, dass es Werte geben kann, die über dem Leben eines Einzelnen anzusiedeln sind und sei er, wie in meinem Falle, auch noch so wichtig. Doch er erwies sich als feiger, inkonsequenter Schwächling und knurrte bloß: „Sie haben Glück, dass ich Sie nicht anzeige!“ „Husch, husch“, machte ich eine fortscheuchende Handbewegung. Er blieb einfach stehen. „Komm, lauf“, führte ich näher aus, „pass schön auf dein Herrchen auf – sonst wird’s noch geklaut!“
Ich war schon ein toller Hecht: Ich hatte dem Schweinesystem ja dermaßen heimgeleuchtet, indem ich hier einen seiner Blutschergen als lächerlichen Lakaien demaskierte. Allein diese halbe Minute würde ihn mindestens 80 Therapiestunden kosten. „Penner“, sagte er leise, drehte sich um und ging.
Frechheit! Kurzzeitig erwog ich, ihm nachzulaufen, ihn an den Ohren zu packen und im hohen Bogen durch eines der großen Fenster in einen Raum voll babbelnder Hessen zu schleudern, ließ ihn dann jedoch in einem Anflug von Milde unbehelligt ziehen. Schließlich war er, frei nach Michael Stein, ohnehin nur eine Illusion.
ULI HANNEMANN