: Unschrullig
Silvia Bovenschen, geboren 1946, aufgewachsen in einem noch weitgehend nazigeschädigten Deutschland, ist Literaturwissenschaftlerin, Soziologin und Philosophin und lebt in Berlin. Ihre Bücher sind durch die Bank gut zu lesen, Lektüreangebote für Menschen, die hinter irgendwelchen Horizonten immer noch eine Spur Interessantes vermuten.
Und Bovenschen gibt ihnen den Stoff. Nichtakademisch im Tonfall, ist sie eine prima Analytikerin der Mikrokosmen des Alltags: Ob in ihren Büchern „Rituale des Alltags“ (2002), zur „Über-Empfindlichkeit“ (2000) oder jetzt in ihrem prall autobiografisch gefüllten Bericht „Älter werden“ (S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2006,162 Seiten, 17,90 Euro).
Am Ende ihrer Art Zwischenbilanz lesen wir unter dem Stichwort Versäumnisse: „Einmal fragte mich jemand, ob ich glaube, in meinem Leben etwas versäumt zu haben. Ich war erstaunt, dass mir gar nicht so viel einfiel. Ich gab die Frage an meine Freundin S. Sch. weiter. Sie überlegte lange. Ich wartete auf eine dramatische Antwort. Dann sagte sie: ‚Ich bin nicht Motorrad gefahren.‘ Mir fällt auch noch etwas ein: Ich konnte nie auf zwei Fingern pfeifen.“
Was für ein glückliches Leben, darf diese letzte Sentenz gelesen werden. Eine Frau, die ihre Schrullen hat und sie auch pflegt, eine karrieremäßig geborgene Wissenschaftlerin, die keineswegs Gründe hat, schuldhaft Versäumtes zu beklagen. Wenn am Ende ihrer beruflichen Tage nur dieses blöde Moment übrig bleibt – nicht auf zwei Fingern pfeifen zu können –, dann muss sie entweder alles richtig gemacht haben, oder ihr gelingt es, das, was das Leben ihr bietet, in all seinen Vorläufig- wie Endgültigkeiten annehmen zu können.
Eine Haltung bar bitterer Züge, was deshalb auch erstaunt, weil die Autorin seit langem an Multipler Sklerose leidet und ihre Mobilität nicht ohne ihren Rollstuhl denken kann. Möglicherweise aber ist die Summe, die Bovenschen aus ihrem Leben zieht, nicht untypisch für die Generation der Nachkommen von Kriegskindern: Angehörige einer Generation, die häufiger als jene in den Jahrzehnten zuvor gesellschaftlichen Aufstieg schaffte, Mitglieder einer Altersgruppe, die Deutschland nur furchtsam begegnen konnten und mittlerweile begreifen, dass sie ihr Land, intellektuell wie pragmatisch, zu einem besseren gemacht haben.
Auch Bovenschen, eine im Übrigen schöne Frau auch im Älterwerden, liest sich diese Spur heraus. Eine Autorin, die erinnern will, weil das, was wieder in den Blick gerät, gefallen kann. Die Glückhaftigkeit ihrer Biografie mag auch mit einer materiellen Ausstattung zu tun haben, die von heutigen Jugendlichen nicht mehr nachgefühlt werden kann: alles nur noch prekär, also ganz anders als früher. Doch die Arbeit an einem besseren Altsein scheint wie eine Parallele zur Arbeit an einem besseren Land: Bovenschen, auch eine Analytikerin der nicht bleischweren Seiten der deutschen Kultur.
Am Anfang ihres Buchs heißt es im vierten Absatz: „Wann habe ich angefangen, die Menschen auf der Straße einzuteilen in diese, die leben wollen, und in jene, die leben müssen?“ Eine Schlüsselstelle: Silvia Bovenschen wollte diesen Unterschied offenkundig sehen, weil sie dessen sicher sein wollte. Sie hat, so liest sich ihr Bericht, nicht allein überlebt, sondern alles, buchstäblich alles aus diesem Ding herausgeholt, was sich Leben nennt: Entstanden ist so eine berührende Archäologie in eigenster Sache. JAF