: Ungesehene Bilder zeigen
VIELSTIMMIGKEIT Für den Komponisten und Regisseur Heiner Goebbels ist das Theater ein „Museum der Wahrnehmung“. Dort soll man Spaß haben und Erfahrungen machen können. Am Freitag war Goebbels zu Gast an der UdK
VON FRANZISKA BUHRE
Dem Theaterpublikum wird vor oder nach einer Aufführung gern Waffeln, Kaffee und Croissants geboten, um notdürftig den didaktischen Gestus von Publikumsgesprächen zu verschleiern. Am vergangenen Freitag bot eine Veranstaltung an der UdK eine echte Alternative, ohne Kekse Einblick in die Arbeit eines Regisseurs zu erhalten. Auf Einladung von Paul Binnerts, Gastprofessor im Studiengang „Szenisches Schreiben“, stellte Heiner Goebbels drei seiner Produktionen vor. Unter dem Titel „Das Drama der Medien“ machte der Komponist und Regisseur deutlich, wie sehr ihn das Wechselspiel visueller und akustischer Wahrnehmung beschäftigt. Licht, Musik, Text, szenischer Raum, Körper und Stimme behandelt Goebbels als Theatermittel mit je eigener Kraft, die persönlichen Erfahrungsräume des Betrachters zu öffnen.
In „Oder die glücklose Landung“ von 1993 hängt ein großer Vorhang aus Seidenfäden auf die Bühne herunter. Er wird lautstark von 50 Ventilatoren in Bewegung gesetzt. Währenddessen spielen Musiker zum Teil gleichzeitig verschiedene Musiken. Schauspieler André Wilms spricht gegen Maschinen und Musik an. Er zitiert Texte von Joseph Conrad und Heiner Müller. Obwohl er dem Zuschauer keine Identifikationsfläche bietet, erscheint der Schauspieler gegen diese Widerstände als starke Figur. In solcher „Vielstimmigkeit der Mittel“, sagt Goebbels, „sind dann auch verschiedene Zugänge möglich. Das ist ein Kennzeichen meiner Arbeit, dass man sich ihr nähern kann von verschiedenen Seiten, von der Musikseite her oder der visuellen oder der literarischen oder von der Theaterseite, die nicht mit der literarischen identisch ist.“
In „Eraritjaritjaka“ von 2004 ist es die Musik, die das szenischen Geschehen strukturiert. Der Rhythmus der Szenenfolge setzt Imaginationen frei, der Betrachter bleibt im Ungewissen darüber, was als nächstes passieren wird. Hören und Sehen geraten miteinander in Konflikt, etwa wenn ein Klang ein Bild infrage stellt oder wenn die Tätigkeiten des Schauspielers, die als Projektion sichtbar gemacht wird, irritierende Synchronitäten zur live gespielten Musik aufweisen. Um diesen Effekt der Synchronisierung zu erreichen, musste Takt für Takt, Geste für Geste über Monate geprobt werden, wie Goebbels durchblicken lässt. Nach vielen Durchläufen erst beginne eine präzise Aufführungsgeschichte, meint Goebbels. Das bedeutet fürs Publikum jedoch mitnichten eine Vorhersehbarkeit des Geschehens.
Wie sehr unsere Wahrnehmung eine Erwartung an die Präsenz von Menschen auf der Bühne knüpft, führt „Stifters Dinge“ (2007) gerade in deren Abwesenheit vor Augen. Die Elemente der Bühne sind hier die Protagonisten. Zu sehen und zu hören sind fünf Klaviere, Wasser, das Spiel von Vorhängen, Licht, Projektion, Stimmen und Text in einem nicht nachvollziehbaren Ablauf. Blick und Ohren werden auf sich selbst zurück verwiesen und können schweifen, nun sind ganz eigene Entdeckungen möglich. „If a play was exactly like a landscape, than there would be no difficulty of the person looking at it“, zitiert Goebbels die amerikanische Schriftstellerin Gertrude Stein. Goebbels legt es darauf an, der Aufmerksamkeit der Zuschauer das Umherwandern in der Landschaft eines Stückes zu ermöglichen.
Er betont, nie mit Theatertexten, sondern mit anderen Textsorten wie Tagebuchaufzeichnungen, Gedichten oder Romanen zu arbeiten. Das beim Lesen empfundene Vergnügen möchte er auf die Bühne bringen, ohne es zu bebildern. Er will den Sätzen ihre Freiheit lassen. Ihn interessiert das „akustische Angebot“ eines Textes. Und so scheint es folgerichtig, dass Goebbels die Beschäftigung mit „eigenartigen Stimmen“ als ein durchgängiges Motiv in seinen Arbeiten bezeichnet. Dazu zählt er auch eine ethnografische Aufnahme aus Papua-Neuguinea von 1904, die für ihn eine Verbindung zum „Ding“ bei Stifter herstellt, das etwas Fremdes, Unerklärliches kennzeichnet. Die Auseinandersetzung mit etwas Fremden, dem man so noch nicht begegnet ist, gehört für Goebbels zur künstlerischen Erfahrung: „Ich glaube, dass zeitgenössisches Theater ungesehene Bilder zeigen muss und auch ungehörte Töne, ungelesene und neu zu lesende Texte.“ Die Medien der Spektakelgesellschaft erhöhten zwar unsere Wahrnehmungskompetenz, verstellten aber auch, dass wir im „Museum der Wahrnehmung“, wie Goebbels das Theater nennt, Vergnügen haben oder Erfahrungen machen können. Inzwischen finden Menschen auf der ganzen Welt in Goebbels’ Aufführungen Zugang zu ihren eigenen Erfahrungswelten. Jede dieser Erfahrungen stimmt ein in eine Polyfonie darüber, was ein Stück von Heiner Goebbels alles sein kann.