■ Ungarn könnte Vorbild sein für ganz Ostmitteleuropa: Keine Angst vor Reformsozialisten
Ungarn, einst als postkommunistisches Musterland gelobt, hat von seinem guten Ruf seit längerer Zeit einiges eingebüßt. Beigetragen haben zu dieser Entwicklung die lange ungelöste Krise der Regierungspartei „Ungarisches Demokratisches Forum“ (MDF) um ihren rechtsextremen Flügel, Säuberungen der elektronischen Medien von unliebsamen Journalisten und nicht zuletzt unerwartete wirtschaftliche Schwierigkeiten im Land.
Am Sonntag wird Ungarn nun wählen, zum zweiten Mal seit 1989, seit die Kommunisten ihre Macht abtraten. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird das christlich-national- konservative MDF dabei eine Niederlage erleiden. Und aller Wahrscheinlichkeit nach wird die einzig bedeutende Nachfolgepartei jener Kommunisten, die „Ungarische Sozialistische Partei“ (MSZP), die große Siegerin dieser Wahlen sein. Heißt das, daß die Ungarn nostalgisch auf die sichere, übersichtliche alte Zeit zurückblicken? Gilt ihnen Freiheit nichts? Kann die Marktwirtschaft ihre Probleme nicht lösen?
Im Gegenteil. Sollten die Wahlergebnisse so ausfallen, wie die Umfragen es voraussagen, dann wäre es ein Votum für das politisch-ökonomische Szenario des günstigsten Falles, welches sich innerhalb Osteuropas bislang allein in Ungarn abgespielt hat. Genauer gesagt: ein Votum, es wieder deutlicher weiterzuführen. Ungarn hätte damit gute Chancen, als Modell auf mittelosteuropäische, in gewissem Maße auch auf südosteuropäische Länder zu wirken.
Das Land war nicht die „lustigste Baracke“, sondern eine pragmatische Diktatur. Nach seinem Wahlsieg im Frühjahr 1990 konnte das MDF auf einen 20jährigen, zunächst von den Kommunisten vorsichtig abgesteckten ökonomischen Reformprozeß aufbauen, der sich seit Mitte der 80er Jahre selbst beschleunigt hatte und zugleich in einen politischen umgeschlagen war.
Daß Reformen früher als anderswo in Osteuropa begonnen wurden, zeigt noch heute Wirkung. Das Land verfügt über eine im Vergleich moderne Infra- und Arbeitsplatzstruktur und hat mit Abstand die meisten ausländischen Investitionen angezogen. Die Wirtschaftskrise besteht nur noch in Stagnation. Ein Aufschwung innerhalb der nächsten drei Jahre ist zu erwarten.
Eine Reihe von MDF-Politikern trugen viel zur makroökonomischen Stabilisierung der ungarischen Wirtschaft bei. Ansonsten blieb die Forum-Partei jedoch ein schlechter Sachverwalter und ist zum Hemmnis einer Weiterentwicklung geworden. Sie hat nicht versagt – sie hat ökonomische Modernisierung und Privatisierung ideologischen Grundsätzen unterworfen und so verzögert oder verhindert.
Ähnliche Phänomene sind überall in Osteuropa zu beobachten. In Ermangelung einer geeigneten neuen politischen Elite drängten nach dem Sturz oder Abtritt der Kommunisten meistens diejenigen an die Macht, die unter der Diktatur gelitten hatten oder jedenfalls innerlich ihre entschlossenen Gegner gewesen waren. Unabhängig davon, ob sie liberale Bürgerrechtler, antikommunistische Nationalisten oder einfach nur Leute waren, die am lautesten schreien konnten, unabhängig auch von ihrer Integrität – der politische Professionalismus fehlte nahezu allen.
Die Diskrepanz zwischen einer mehr oder weniger pragmatischen Gesellschaft und einer der Vergangenheit verhafteten postkommunistischen Politikerklasse fällt in Ungarn besonders auf. Die Ursachen dafür liegen großenteils in der Entwicklung nach der Revolution von 1956. Die Kadar-Diktatur hatte diese blutig niedergeschlagen und bot dann einen Kompromiß an, den die meisten eingingen: ein konsumorientiertes System im Gegenzug für öffentliches Stillschweigen. Wobei die Kommunisten von Zeit zu Zeit neue Zugeständnisse machen mußten, um das Schweigen zu erkaufen. Privat durfte gemeckert werden. Mit Initiative, Geschick und vor allem halblegalen Tricks konnten die Ungarn eine Zukunft aufbauen. Nur die wenigen, die diesen Rahmen durchbrachen, sanktionierte das System hart.
Eine Entpolitisierung war das nicht unbedingt. Die jahrelangen Proteste der ungarischen Gesellschaft gegen das Wasserkraftwerk Nagymaros waren Politikum und begannen seit Mitte der 80er Jahre die Entmachtung der Kommunisten einzuleiten. Eine beträchtliche Anzahl gewerkschaftlicher und unternehmerischer Interessenverbände fügt sich heute in den politisch-institutionellen Rahmen ein. Die Kommunisten betrieben vielmehr eine Entideologisierung. Sie richtete sich einst gegen ihre Erfinder. Heute ist sie der stärkste Motor der Modernisierung.
Die Ungarn schlugen sich früher am Staat vorbei durch und machen heute die Erfahrung, daß er ihnen kaum hilft, eine Zukunft aufzubauen. Die tendenzielle Verarmung von Bevölkerungsschichten, hauptsächlich der Rentner, ist jedoch nur ein Aspekt der postkommunistischen Entwicklung. Viele Ungarn leben nicht schlechter als früher. Sie müssen nur sehr viel mehr arbeiten, um ihren Lebensstandard zu halten. Und neben der großen Arbeitslosigkeit gibt es ebenso die weitverbreiteten Phänomene des Zwangsunternehmertums und der „grauen Wirtschaft“.
Für den größten Teil der Ungarn spielt Trianon – der Verlust von zwei Dritteln des Landes im Jahre 1920 – keine Rolle. Sprache und Geist des MDF bleiben ihnen da, wo sie an die Horthy-Zeit angelehnt sind, fremd. Die ideologischen Debatten, die das MDF und zeitweise auch die liberale Opposition führten, wurden für die Gesellschaft in den letzten vier Jahren immer weniger akzeptabel oder nachvollziehbar.
Aus solchen Debatten haben sich die Sozialisten geschickt herausgehalten. Daß unter ihnen frühere Funktionäre und Systemprofiteure sind, berührt unangenehm. Aber es gibt sie genauso im MDF und in anderen Parteien. Jene Kommunisten, die 1989 die MSZP gründeten, haben ihren Reformwillen unter Beweis gestellt und nach 1989 nur wenig mit jener Sozialdemagogie operiert, die für andere osteuropäische KP-Nachfolgeparteien so charakteristisch ist. Denn sie hätten darin ein positives Verhältnis zu jenem alten System ausgedrückt, dessen geordnete Beseitigung sie sich ja gerade anrechnen. Das heutige Programm der Partei trägt neben sozialdemokratischen auch liberale Züge und steht den zum Teil antikapitalistischen Vorstellungen des MDF gegenüber.
So wie Nationalismus in Ungarn wenig Chancen hat, so wird es mit den Sozialisten keine Restauration geben. Sollten sie an die Macht kommen, muß zwar abgewartet werden, ob und wie sie ihre Wirtschaftspolitik und damit weitere Reformen durchsetzen. Aber zumindest zeigen sie Bereitschaft, auch unpopuläre Maßnahmen zu treffen.
Und wenn den Sozialisten ihr ehrgeizigstes politisches Projekt gelingen sollte – die historische Aussöhnung mit den Nachbarländern –, dann hätte das einen positiven Effekt auf den Transformationsprozeß in der ganzen Region. Keno Verseck
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