: Unerledigte Mutterprobleme
betr.: „Meinhofs später Weg nach Osten“, taz vom 9. 11. 02
Es gilt weniger die Verdienste von Ulrike Meinhof als Journalistin der Sechzigerjahre bei konkret zu durchforsten, und somit zu würdigen als die besten seinerzeit in der Republik, als vielmehr, sich die Tochter anzusehen oder von ihr zu lesen. Dann fällt ganz schnell auf, dass sie eher von einem unerledigten Problem mit ihrer Mutter geleitet wird als von einer tatsächlichen Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse seinerzeit, und den vielen rebellischen wie revolutionären Versuchen, diese zu verändern.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die eigenen Kinder nicht nur politisch völlig andere Wege gehen können, sondern von ganz persönlichen Hassgefühlen aus Verlassenheit in der Kindheit geleitet werden. Wenn die erwachsenen Frauen oder Männer (Ensslins Sohn genauso) es nicht schaffen, in Therapien ihre Verlassenheitsgefühle aus der Kindheit zu bewältigen und lernen damit umzugehen, kommen sie auch an anderen Stellen als nur politischen zu Tage. In ganz persönlichen Verletzungen, Beschimpfungen und Ausgrenzungswünschen gegen die doch nach ihrer Meinung „kriminellen“ Mütter/Väter.
Ganz zu schweigen von so genannten Wissenschaftlern, die sich immer finden lassen, die Revolutionären oder auch nur Oppositionellen ein Irresein bescheinigen. Die Geschichte ist voll davon, und zu Zeiten Stalins in Russland war es gang und gäbe, Andersdenkende als der offiziellen Ideologie Folgenden in Psychiatrien verschwinden zu lassen.
Daher verwundert überhaupt nicht, im Nachhinein das zu versuchen, was in den Siebzigerjahren nicht gelang: Ulrike Meinhof für verrückt zu erklären. Allerdings dann auch gleich in einem Abwasch die gesamte RAF dorthin zu sortieren, ist nicht nur dreist, sondern sagt mehr über eigene Strukturen und Autoritätsgläubigkeit aus als über eine Organisation.
[…] Leider reihen sich die Denkweise und das Handeln einer Bettina Röhl nahtlos dort ein, wo es darum geht, die Geschichte der bewaffneten Bewegungen in Deutschland diffamierend zu entsorgen. ILSE SCHWIPPER, Berlin
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