: Unbeschreibliche Hartnäckigkeit
■ Über Alfred Sohn Rethel, geboren 1899, gestorben 1990
Jo Müller
Schreibe etwas Persönliches, und erkläre den Grund für die Faszination, die von Alfred Sohn Rethel ausging - und vielleicht kannst Du in ein paar Sätzen seine Theorie erklären.“ So oder so ähnlich erreichte mich die freundlich vorgetragene Bitte, einen Nachruf zu Alfred Sohn Rethel für die taz zu schreiben.
Ich hatte ein sehr freundschaftliches Verhältnis zu Alfred Sohn Rethel. Er war mein Doktorvater, und ich habe über fünf Jahre lang sehr eng mit ihm zusammengearbeitet. Als Doktorvater war er von unbeschreiblicher Hartnäckigkeit, und wäre er nicht auch enger Freund geworden und Lehrer - im alten, positiven Sinn des Wortes -, ich hätte sagen können: Er hat mir mit seiner Akribie manchmal den letzten Nerv geraubt.
Sohn Rethel nahm - völlig im Gegensatz zur begriffsbeliebigen politischen Kultur der deutschen Linken die Sprache sehr ernst, und er konnte über einen einzigen Begriff und dessen Implikationen nächtelang diskutieren. Dagegen war an sich nichts einzuwenden, dies wurde nur zur Quälerei, wenn man selbst es war, der diesen Begriff inkonsistent im Text benutzt hatte. Sprachliche und begriffliche Ungenauigkeiten empörten ihn, und er selbst hatte das handwerkliche Verhältnis eines Steinmetzes zur Sprache:
Hochgerüstet mit Batterien von spitzen Bleistiften erinnere ich ihn hinter seinem Schreibtisch sitzend. Vor sich meist seine - bei einem Schmuggelversuch teilweise mit im Koffer ausgelaufenem, französischem Cognac durchtränkte - Ausgabe des Kapitals, um sich herum ein heilloses Durcheinander von Büchern und Manuskripten, gravierte er kleine „spitze“ Zeichen entweder in seine Bücher oder auf einzelne, halbierte Blätter. Sohn Rethel erkämpfte sich seine Texte Zeile für Zeile, und er hat einmal von sich gesagt: „Alles, was ich geschrieben habe, habe ich selbst gedacht.“ So ein Satz ist entweder vermessen oder er stimmt. Bei Sohn Rethel stimmte er. Die Seitenzahl seiner gesamten Veröffentlichungen erreicht heutzutage ein mittelmäßig ehrgeiziger und noch nicht einmal besonders geschwätziger Sozialwissenschaftler allein schon mit seiner Dissertation.
Faszinierend an ihm war nicht nur seine beharrliche Arbeitsweise, sondern auch eine Art Zeitlosigkeit im Verhältnis zu seinem Werk. „Das letzte Mal habe ich das etwas anders geschrieben“, und er zitierte einen Satz aus einem hervorgewühlten Manuskript, das immerhin 50 Jahre alt war. Ein schneller Blick trotz kurzer Verblüffung machte einem deutlich, daß er dabei nicht mit Alter oder früher Erkenntnis kokettierte, sondern ganz selbstverständlich und konzentriert die präzisere Formulierung prüfte.
Sohn Rethel war aber nun beileibe kein in sich gekehrter Wissenschaftler oder gar asketischer Philosoph. Der Autor von Geistiger und körperlicher Arbeit lebte nach dem Prinzip der Einheit geistiger und körperlicher Genüsse. Sein Leben lang überaus knapp an Mitteln, wußte er diese optimal einzusetzen. Mit ihm einzukaufen, war ein sinnlicher Genuß. Geschmackssicher fand er immer Bestes, und war dieses teuer, dann erreichten kleine Dosierungen große Effekte. Der Meister der Tauschabstraktion genoß den Realtausch wie kein anderer, wenn es um Wein, Obst, Bücher oder ähnliches ging. Heide Gerstenberger nennt ihn in einem liebevollen Nachruf in der Bremer Ausgabe der taz einen „Frauenmann“ und deutscht damit den französischen Begriff „homme a femmes“ diskret ein. Auf alle Fälle verhielt er sich so, daß er selbst im Rollstuhl, kurzfristig irgendwo alleingelassen, mit Sicherheit in Begleitung einer oder mehrerer Frauen wieder aufgefunden wurde, die keineswegs von mütterlichen Gefühlen beherrscht waren. In gemeinsam mit ihm gehaltenen Seminaren war die grauenhafte Klärung der Frage, wer denn nun Protokoll führen solle, überflüssig - es meldeten sich schon vor Beginn begeistert mehrere Studentinnen.
Doch all dieses macht nur unvollständig klar, warum Alfred Sohn Rethel so faszinierend war. Für meine Generation war er der richtige Mann zur richtigen Zeit. Entgegen vielerlei Angriffen von ideologisch differierender Seite verfügte Sohn Rethel über eine für deutsche Verhältnisse untadelige Vergangenheit. Sohn Rethel war als Lehrer und für mich als Doktorvater leichter akzeptierbar, weil er in der Zeit des Nationalsozialismus zum Widerstand gehört hatte und von der Gestapo 1936 ins Exil getrieben worden war. Verdächtig war er der Gestapo nicht nur als von den Nürnberger Rassegesetzen als Halbjude Eingeordneter, sondern auch, weil er als Mitarbeiter beim „Mitteleuropäischen Wirtschaftstag“ eine Doppelexistenz geführt hatte. Der „Mitteleuropäische Wirtschaftstag“ war eine Beratungsinstitution für die nationalistische Fraktion des Kapitals und auch für dessen nationalsozialistischen Teil. Er schrieb in deren vertraulichen Organen Aufsätze, die ziemlich deutlich die imperialen Interessen Deutschlands beschrieben. Diese Aufsätze übermittelte er sowohl der KP, die diese im Wahlkampf nutzte, als auch später, als Informationen, an Widerstandsgruppen in Berlin. In der Gruppe „Neu Beginnen“ bezeichnet Margret Boverie ihn als „einen philosophischen Kommunisten oder kommunistischen Philosophen, der überragende Kopf in unserem Kreis“. Sohn Rethel selbst beschreibt in einem Brief an Walter Benjamin seine damalige Position bezüglich der politischen und ökonomischen Ereignisse als die Sicht „vom zweiten Rang Mitte“. Eine Position, die ihm beste Voraussetzungen für sein Buch Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus schaffte. Diese Tätigkeit von 1933 bis 1936 und seine Analyse des Nationalsozialismus hat ihm beim stalinistischen Teil der deutschen Linken jede Menge Feindschaft eingebracht. In rufmörderischer Absicht ist ihm zuletzt in einer Ausgabe der 'Konkret‘ wider besseres Wissen unterstellt worden, ausgerechnet er hätte mit dem Nationalsozialismus gemeinsame Sache gemacht. Dieser Umkehrung vom Opfer zum Täter lag ein wesentlicher Widerspruch Sohn Rethels zur offiziellen „linken“ Faschismusanalyse zugrunde. Sohn Rethel hat deutlich gemacht, daß es im wesentlichen die völlig unausgelasteten Schwerindustrien gewesen sind, die die Nationalsozialisten unterstützt haben. Sie waren zur Zeit der Weltwirtschaftskrise ruiniert, weil sie, technisch unflexibel, weit unterhalb der Kapazität und damit Kostendeckung produzieren mußten. Er hat bewiesen: „Es war nicht das Kapital, das den deutschen Nationalsozialismus zur Macht verhalf, sondern dessen ökonomisch und finanziell schwächster Teil.“ Schon eine so differenzierte Analyse mußte dort provozieren, wo simple Feindbildpflege für Politik gehalten wird. Auch in seinem wesentlichen wissenschaftlichen Gebiet - der Erkenntnistheorie - ist Alfred Sohn Rethel mit der traditionellen „linken“ Lehrmeinung in Widerspruch geraten. In hier gebotener Kürze zusammengefaßt, geht Sohn Rethel davon aus, daß die mit den Methoden der exakten Naturwissenschaften gewonnenen Erkenntisse keine Widerspiegelung der Natur und damit keine reine „Wahrheit“ sind - für ihn haben diese Methoden (Abstraktionen) ihre Grundlage im gesellschaftlichen Handeln (Tauschhandlung) und konstituieren damit eine „zweite Natur“.
Er relativiert den Wahrheitsanspruch der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, und erstaunlicherweise ist ihm das nirgends übler genommen worden als von „Theoretikern“ aus der DKP-Ecke und der DDR. Für sie war Sohn Rethel ein Revisionist, denn sie glaubten produktivistisch an den „emanzipativen“ Wahrheitscharakter der Naturbeherrschung auf Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Ohne daß es ihm „politisch“ bewußt gewesen ist, hat Sohn Rethel damit einen Pfeiler der sozialistischen Theoriebildung bzw. Herrschaftslegitimation radikal in Frage gestellt. Selbst unter der sich als unerfüllbar erwiesenen Annahme, daß der Sozialismus zu einer „Entfesselung der Produktivkräfte“ führen würde, mußte das unter Sohn Rethels Prämissen nicht zum „Fortschritt“ führen. Heute wissen wir, daß die hier nur beschriebenen politischen Implikationen für alle industriellen Gesellschaften gelten. Vereinfacht ausgedrückt: Die auf Basis der Anwendung der abstrakten Methoden der Naturwissenschaften (und der Teilung der Arbeit, würde Sohn Rethel hinzufügen) gewonnenen Erkenntnisse und umgesetzten Produkte ergeben eine „zweite Natur“, die mit der (ursprünglichen) ersten nichts gemein hat. Wie der taylorisierte Arbeitsprozeß und, heute deutlicher und bedrohlicher, die ökologischen Krisen zeigen, steht diese „zweite Natur“ der „ersten“ teilweise durchaus feindlich und destruktiv gegenüber. Daraus wäre zu folgern, daß der Fortschritt einer emanzipierenden und, ich füge hinzu, naturverträglichen Gesellschaft und Produktionsweise ohne eine Kritik der Naturwissenschaften bis zu einer „Neuentwicklung“ derselben undenkbar sind. Die neueren Entwicklungen und Diskussionen in den Kreisen der theoretischen Physik über Chaostheorie könnten Sohn Rethels Kritik bestätigen und positiv aufnehmen. Zumindest wären diese Diskussionen als ein Zeichen dafür zu interpretieren, daß dort Verunsicherung eingetreten ist, wo es früher immer am schwersten gewesen ist, Alfreds Theorien zu vermitteln: bei den klassischen Naturwissenschaften.
Hans Martin Lohmann beschreibt Alfred Sohn Rethel in einem Nachruf in der 'Zeit‘ als „den letzten Marxisten - was nach ihm kommt, ist nur noch Fußnote“. Das mit der Fußnote kommt der Sache ziemlich nahe, das mit dem Marxisten beschreibt ihn nicht vollständig. Alfred Sohn Rethel kannte sich wie kein anderer im Marxschen Werk aus. Er zitierte frei und auswendig Marx-Engels-Werke 23 und die Grundrisse. Sportlich wie er war, ließ er einmal auf einem gegen ihn gerichteten Teach-in die gesamte Truppe der Marxistischen Gruppe wie die bekloppten hechelnd hinter seinen Marx-Zitaten hinterherblättern. Er nahm seinen Marx aber ernster als es Marxisten zu tun pflegen. Das Warenkapitel diente ihm als herausfordernder Text zur eigenen Erkenntnis, und die Arbeitswerttheorie hielt er „für Unfug“, ja sogar „für metaphysisch“. In ähnlicher Weise bezog er sich aber auch auf Kant und insbesondere Cassirer.
Sein letztes erschienenes Buch stellte Alfred nach größten Anstrengungen und mit Hilfe der Pflege seiner dritten Frau Bettina Wassmann vor einem Jahr fertig. Es heißt immer noch Geistige und körperliche Arbeit, es ist faktisch die neunte (!) Überarbeitung und Variation seiner Thesen, doch der Titel ist irreführend. In diesem Buch hilft Sohn Rethel dem Leser mit vielen historischen Hinweisen. Seine Mühe an diesem Werk hat sich für den Leser gelohnt. Es tröstet sehr, daß er es fertigstellen und veröffentlichen konnte.
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