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Unbeachtet: der seelische Konflikt

betr.: „Ein Leben im Chaos“, taz vom 27. 4. 01

Mit Interesse habe ich den Artikel über das ADS-Syndrom gelesen. Als Psychoanalytikerin für Kinder und Jugendliche war ich jedoch verwundert und alarmiert, dass lediglich verhaltenstherapeutische und psychiatrische Konzepte thematisiert wurden. Diese Ansätze sind für manche PatientInnen und deren Familien wohl passend, da die störende Symptomatik entweder medikamentös unterdrückt wird oder versucht wird, das Verhalten „abzutrainieren“. Oder vielleicht sind diese Konzepte einfach nur billiger für die Krankenkassen, einträglicher für die Pharmaindustrie und stellen gesellschaftliche, politische oder individuelle Lebensbedingungen von Kindern nicht in Frage?

Völlig unbeachtet bleibt der seelische Konflikt dieser Kinder, auf den die heftige Symptomatik unübersehbar hinweist. In tiefenpsychologischen Kindertherapien oder Kinderanalysen besteht die Möglichkeit, eben diesen zugrunde liegenden Konflikt zu bearbeiten und zu verstehen, warum ein Kind mit den dargestellten Symptomen reagieren muss. Wird das Störverhalten lediglich unterdrückt oder abtrainiert, sucht sich der seelische Konflikt erfahrungsgemäß eine andere Form des Ausdrucks.

Immer wieder sehe ich Kinder, bei denen die ADS-Symptomatik beobachtet werden kann, bei deren Behandlung jedoch völlig unterschiedliche Konflikte (zum Beispiel Gewalterfahrungen, familiäre Belastungen) die angebliche ADS-Symptomatik bedingen. Die Bearbeitung der individuellen Konfliktsituationen mit dem Kind und seinen Bezugspersonen dauert sicher länger und ist für alle Beteiligten ein anstrengender, aber auch kreativer Prozess, der die Symptome langsam, aber kontinuierlich in den Hintergrund treten lässt. In einer Kinderanalyse kann ein betroffenes Kind einen „Spielraum“ finden, etwa seelischen Schmerz zu betrauern und nicht in Wut, Sehnsucht, Frust und destruktiven Gefühlen gefangen zu bleiben. Je mehr das Kind im Rahmen einer kinderanalytischen Behandlung zum Gestalter/zur Gestalterin der eigenen Biografie wird und sich besser verstehen kann, desto weniger wird es, von schlechten Gedanken verfolgt, unkonzentriert in der Schule sitzen müssen oder getrieben herumzappeln.

RITA SEITZ, München

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