Umsturz in Syrien: Zwölf Jahre Starre – und dann plötzlich Leben
Der Sturz des Assad-Regimes symbolisert für viele Syrer:innen einen Wendepunkt. Der deutsch-syrische Doktorand Mounir Zahran erinnert sich an Zeiten der Unterdrückung.
Ich bin in Deutschland als Sohn syrischer Eltern geboren. Mein Vater kam einst zum Medizinstudium hierher, später, bei einem Besuch in der Heimat, lernte er meine Mutter kennen. 2004 als ich zehn war, kehrten wir auf ihren Wunsch nach Aleppo zurück. Sie hatte sich in Deutschland nie heimisch fühlen können. Was mich in Syrien erwartete, wirkte auf mich wie eine andere Welt: Assads Omnipräsenz. Porträts in jedem Klassenraum, Statuen an jeder Straßenecke, Propagandaplakate, die man irgendwann nicht mehr hinterfragte, weil sie einem täglich aufgedrängt wurden, bis man sich ihrem Sog nicht mehr entziehen konnte.
Ein Fußballspiel, an das ich mich bis heute erinnere, macht dieses komische politische Klima Außenstehenden vielleicht greifbar: Unser Stadtverein in Aleppo spielte gegen einen Verein aus Saudi-Arabien, als plötzlich, mitten im Spiel, das Bild des Präsidenten auf der Stadionleinwand aufblitzte, lächelnd, die Hand gönnerhaft Richtung Menge gestreckt. Zehntausende sprangen von den Sitzen und bejubelten nicht mehr ihr Team, sondern den Diktator. Freunde, Bekannte, jeder klatsche euphorisch. Ich aber blieb sitzen.
Als Neuling in diesem System empfand ich diesen Zwang, diese Anbetung als demütigend. Mein Freund rief: „Steh auf! Das ist der Präsident!“ Doch anstatt mich zu erklären, habe ich einfach nichts gesagt, ich traute mich nicht, meine Gedanken laut zu äußern Ich saß einfach da, wie gelähmt, mit diesem seltsamen Gefühl, gemischt aus Abscheu und Angst.
Der Zwang fühlte sich demütigend an
Das ist nun rund 15 Jahre her, und erst im Rückblick begreife ich, wie effektiv und vor allem perfide dieses Regime Angst und Propaganda verknüpft hat. Ich bin sicher, viele der Jubelnden hatten in anderen Momenten genauso gezögert wie ich, waren bestimmt sitzen geblieben, hatten auch gezweifelt. Aber irgendwann wird die Furcht um das eigene Leben größer als die Scham, sich selbst zu verleugnen. Und irgendwann wird diese Selbstleugnung zum Normalzustand, man gewöhnt sich und man weiß nicht mehr, wer man war, bevor man sich diesem Regime beugte.
Für viele Syrer öffnete der Arabische Frühling 2011 endlich eine Tür aus der Selbstverleugnung. Ich weiß noch genau, wie wir gebannt vor dem Fernseher saßen, als in Ägypten die Proteste anfingen. Wir wussten: Stürzt Mubarak, dann wird der Funke auf Syrien überspringen. Die Freude über den dann tatsächlich erfolgten Sturz Mubaraks verknüpften wir unmittelbar mit der Hoffnung auf einen baldigen Umbruch in Syrien.
In dieser Euphorie schlichen meine damalige Freundin und ich uns im Schutz der Nacht aus dem Haus, ohne dass unsere Eltern es mitbekamen, und besprühten eine Mauer in einem Park mit der Parole: „Verschwinde, Assad!“ Doch es kam anders: Statt Befreiung folgte ein dreizehn Jahre währender Albtraum. Ein Land, das in Trümmern liegt, traumatisiert, zerrissen – und ganz oben thronte immer noch Assad, der nackte Kaiser.
Im Sommer 2012 verließ ich über den Flughafen Aleppo Syrien in Richtung Deutschland, und ich konnte in dem Moment nicht ahnen, dass es mein Abschied für 12 Jahre sein würde. Als vor gut einer Woche Rebellen an den Grenzen zu Aleppo vorrückten, nahm die Mehrheit der Syrer dies kaum wahr. Zu tief war die Überzeugung, dass der Status Quo unverrückbar ist, Assads Schwäche hin oder her.
So zynisch es klingen mag, für die meisten war es einfach eine Offensive von vielen gewesen. Dass ausgerechnet auf diese Offensive der größte Umbruch der vergangenen fünfzig Jahre folgen könnte – seit dem Putsch der Baath-Partei im November 1963 – hätte niemand zu träumen gewagt. Nun aber hofften die Syrer wieder: Bitte, lasst es schnell gehen, nicht im Schneckentempo! Nach dreizehn Jahren erlernten Wartens ist jede Verzögerung unerträglich.
Wir wollen Syrien nicht vergessen
Innerhalb einer einzigen Woche haben wir das Warten verlernt! Wir wollen nicht mehr warten, wir wollen Syrien nicht vergessen und wir wollen auch wieder leben. Wie treffend erscheint nun dieser Vers des tunesischen Nationaldichters Abu al-Qasim asch-Schabbi, der während der Proteste des Arabischen Frühlings 2011 überall tausendfach rezitiert wurde und danach lange Zeit in Vergessenheit geriet: „Wenn das Volk zu leben trachtet, dann wird sich das Schicksal mit ihm verbünden; die Nacht wird verschwinden.“
Bald werde ich erstmals seit zwölf Jahren nach Syrien zurückkehren können. In diesen Tagen denke ich oft an meine Mutter, die 2012 nur zwei Monate nach meiner eigenen Rückkehr gezwungen war, aus Sicherheitsgründen mit meinen Geschwistern nach Deutschland zurückzukehren. Sie starb vor etwa drei Jahren in der Diaspora und verbrachte ihre letzten Jahre in einer unwiederbringlichen Vergangenheit. Auch wenn sie letztlich an einer Krankheit verstarb, ist auch sie für mich ein Opfer des Assad-Regimes.
Natürlich gibt es auch Syrer, die dieser Offensive mit Unbehagen begegnen. Sie fragen sich berechtigterweise: Was, wenn diese quälende Stabilität, so schwer zu ertragen sie auch war, nun in blankes Chaos übergeht? Was, wenn am Ende wieder eine Diktatur entsteht, diesmal in einem islamistischen Gewand? Auch ich bin nicht frei von solchen Gedanken. Zu oft habe ich erlebt, wie auf einen politischen Frühling ein endloser, bitterkalter Winter folgte. Etwa nach dem Arabischen Frühling oder den Protesten im Libanon 2019, die ich beide vor Ort erlebt habe.
Doch was nützt das Grübeln jetzt? Das Assad-Regime ist gestürzt, so unwahrscheinlich es jahrelang schien. Ich glaube selbst nicht, was ich hier schreibe, deshalb wiederhole ich diesen Satz nicht nur, weil er mir gut tut, sondern auch, weil ich ihn zum ersten Mal frei in der Öffentlichkeit sagen kann, ohne Angst haben zu müssen, dass meine Verwandten in Syrien für meine politischen Äußerungen in Sippenhaft genommen werden könnten: Assad ist gestürzt, der Tyrann ist mit seinen Schergen aus Damaskus geflohen! Was für unglaubliche Zeiten wir gerade erleben!
Die Lage ist heute eine andere als 2011
Und was wäre die Alternative gewesen? Weiterhin Assad? Also dieselben Massengräber im Umland von Damaskus, Aleppo, Hama, Homs und Palmyra? Dieselbe zerstörte Altstadt von Aleppo, die 600.000 Toten und unzähligen Gefolterten, die Millionen Geflüchteten, das endlose Ausbluten einer einst stolzen Gesellschaft. Kein Wiederaufbau, keine Souveränität, keine Wirtschaft, stattdessen iranische, russische, türkische und libanesische Milizen, Warlords und Drogenbarone. Was könnte schlimmer sein als Sednaya, dieses Folterverlies mit seinen Industriekrematorien, in denen Menschen ohne Spur verschwinden, als hätte es sie nie gegeben? Was könnte schlimmer sein als die ständige Angst, mit einem falschen Wort, einer falschen Geste ins Nichts gestoßen zu werden? Was könnte grausamer sein als dieses Regime der Demütigung, des Verschwindens, der Furcht?
Ich betrachte mich als einen eher nüchternen, bisweilen sogar zynischen Menschen. Nach all den Jahren, in denen ich versucht habe, Syrien aus meinem Leben zu verbannen, stehe ich nun vor der Herausforderung, es vorsichtig wieder anzunehmen. Zwar zögere ich, zu oft gab es Enttäuschungen.
Doch die Lage ist heute eine andere als 2011. Damals stellten sich viele meiner christlichen Freunde, aus verständlicher Sorge, hinter Assad. Heute sind es genau diese Bekannten, die in den sozialen Netzwerken seinen Sturz bejubeln – ebenso wie die kurdische, drusische und sogar alawitische Gemeinschaft. Diese neu entstehende Einigkeit fehlte in Afghanistan, Libyen, im Irak und auch im Syrien des Jahres 2011.
Und ich kann mich deshalb dem Sog dieser Bilder nur schwer entziehen: Menschen, die Statuen der Assad-Familie vom Sockel reißen, die die plötzliche Freiheit in vollen Zügen genießen. Sie erzeugen eine Euphorie, die selbst meine Vorbehalte überlagert. Nach 50 Jahren Schreckensherrschaft wird man so bald keinen neuen Despoten dulden. Ich bin mir sicher: Die Zeit der Tyrannen in Syrien ist vorerst vorbei.
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