: Umbruch ohne Ende
Silberhöhe ist ein Fallbeispiel für die pragmatische Baupolitik der DDR ab 1979. Nach einer kurzen Zeit sozialistischer Planungseuphorie, hatten die Städte begonnen zu schrumpfen. Bis heuteVON AXEL DOSSMANN,ANNE KÖNIG (Text)UND JAN WENZEL (Text & Fotos)
Im Stadtteil Silberhöhe im Süden von Halle an der Saale sind in den letzten Jahren mehr als zwanzig Elfgeschosser abgerissen worden. Die leeren, für die Beseitigung vorbereiteten Wohnblöcke sind nicht nur hier zum Signet des gesellschaftlichen Strukturbruchs in Ostdeutschland geworden. Bei all dem Abbruch tritt der Umbruch kleinerer Häuser oft in den Hintergrund.
Egal ob Kindergarten, Kaufhalle oder Gaststätte, kaum ein öffentliches Gebäude der Stadt weist eine kontinuierliche Nutzung auf. Der Hallenser Stadtteil Silberhöhe, dessen Einwohnerzahl sich seit der Wende halbiert hat, ist dafür ein gutes Beispiel. Von 1979 bis 1990 entstand im Süden von Halle die Großwohnsiedlung Silberhöhe. Utopien einer genuin „sozialistischen Stadt“, wie sie in den Planungen für Halle-Neustadt in den Sechzigerjahren noch eine Rolle spielten, waren durch die zunehmende ökonomische Krise der DDR zu diesem Zeitpunkt bereits aus dem Blick geraten. Eine bedrohlich sinkende Geburtenrate, der Arbeitskräftemangel in den Chemiekombinaten der Region (Buna, Leuna) sowie der zunehmende Verfall maroder Innenstadtwohnungen waren Hauptmotive für die Planung dieses Stadtteils, in dem 1989 knapp 40.000 Menschen wohnten.
Heute zählt Silberhöhe nur noch 19.000 Bewohner. Manche derjenigen, die weiterhin einen Arbeitsplatz hatten, wagten den Bau von Eigenheimen im Umland. Mehr als ein Viertel der Abwanderer ging in die alten Bundesländer. Nach einer ersten Wegzugswelle 1992/93 ist in dem Stadtteil ein anhaltender Prozess sozialer Segregation zu beobachten.
Neben sozial Schwächeren, die wegen der niedrigen Mieten in den Stadtteil ziehen, leben in Silberhöhe immer noch viele der Erstbewohner. Für sie ist die Siedlung ein Teil ihrer Identität. Sie registrieren die Veränderungen in ihrer Wohnumgebung mit besonderer Aufmerksamkeit. Sie schätzen die großen, neu angelegten Grünbereiche und bangen darum, dass ihr Haus irgendwann auch einmal auf den Abrissplan kommt.
Die Wohnungsbaugesellschaften und die Stadt Halle haben in den letzten Jahren das Leitbild der Waldstadt für Silberhöhe erarbeitet. Ziel ist es, den Stadtteil langfristig zu erhalten. Die Bereiche, die durch die Abrisse frei werden, sollen großflächig aufgeforstet werden. An den Rändern des Stadtteils soll ein weitgehend natürlich wachsender Wald entstehen, im Inneren werden „lichte Baumhaine“ angepflanzt.
AXEL DOSSMANN, 36, ist Historiker und lebt in Berlin. ANNE KÖNIG, 33, und JAN WENZEL, 32, leben in Leipzig und sind Herausgeber der Zeitschrift spector cut+paste . Die Gebäudebiografien entstanden im Rahmen des Initiativprojektes Schrumpfende Städte von der Kulturstiftung des Bundes. Mehr über Halle und anderes urbanes Kleinerwerden erfährt man bis zum 7. November auf einer Ausstellung in Berlin ( www.shrinkingcities.de )
Anhalter Platz
Bis Anfang der Neunzigerjahre gab es in Silberhöhe nur eine kleine Poststelle, die provisorisch in einer Erdgeschosswohnung untergebracht war. Sie musste den Bedarf von vierzigtausend Einwohnern abdecken. Ein eigenes Postamt für die Silberhöhe war zwar bereits seit Anfang der Neunzigerjahre geplant und auch schon im Stadtplan eingezeichnet, wurde allerdings erst 1992 errichtet.
Die Deutsche Bundespost investierte in diesen ersten Postneubau Sachsen-Anhalts nach der Wende 2,5 Millionen Mark. In der Anfangszeit arbeiteten sechzig Mitarbeiter in dem Gebäude. Neben dem Postbank- und Briefverkehr erfolgte in den hinteren Räumen auch die Sortierung für die Sendungen des Hallenser Postbezirks 70. Gegenwärtig sind im Filialbereich vier Mitarbeiter beschäftigt, in der Zustellung sind es achtundzwanzig.
Straße der Neuerer, Ecke Straße der Aktivisten; ab 1990 Ludwig-Bethcke-Straße, Ecke Albert-Roth-Straße
Das Gebäude wurde 1984 als zweiter Jugendklub in Halle-Silberhöhe eingeweiht. Im „Neuerer“ trafen sich Jugendliche zum Karten-, Tischtennis- und Billardspielen. Dreimal die Woche war Disco. Als die Stadt 1992 beschloss, den Klub in eine freie Trägerschaft zu überführen, protestierten die Jugendlichen mit Spruchbändern wie „Mit dem Schließen seid ihr fix, für die Jugend tut ihr nix!“. Ihre Aktion war in den Neunzigerjahren einer der wenigen Fälle öffentlichen Protests in Silberhöhe.
In der Folgezeit nahmen unter den Besuchern des Klubs – in der Mehrzahl junge Männer zwischen 14 und 30 Jahren – Drogenkonsum, Schlägereien und Sachbeschädigungen zu. Die Stadt ließ den Klub im März 1996 mit der Begründung schließen, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen in Silberhöhe kontinuierlich abnehme. 1998 beschloss die Stadt Halle, das verwahrloste Gebäude mit Hilfe einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme umzubauen. 2000 eröffnete die Caritas einen Treffpunkt für Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und Migranten. Kernstück des Projektes ist ein Laden, in dem Sozialhilfeempfänger mit dem Halle-Pass Lebensmittel und Verbrauchsgüter bis zu einem Drittel billiger kaufen können als im Supermarkt. Da dieser Laden der einzige dieser Art in Halle ist, kommt seine Kundschaft auch aus anderen Stadtteilen.
Straße der Neuerer; ab 1990 Ludwig-Bethcke-Straße
Im Februar 1989 wurde der Kindergarten Tautropfen eröffnet. Bau und Einrichtung hatten rund 2 Millionen DDR-Mark gekostet. Wegen zu geringer Auslastung wurde die Einrichtung aber bereits im September 1991 wieder geschlossen. Von den 144 Plätzen wurden zu dieser Zeit nur noch vierzig genutzt. Die Kinder wurden auf andere, ebenfalls unterbelegte Kindergärten aufgeteilt.
Im Januar 1993 stimmte die Hallenser Stadtverordnetenversammlung dem Verkauf des Gebäudes an das Land Sachsen-Anhalt zu, das es für 2,3 Millionen Mark erwarb, um eine Polizeiwache einzurichten. Allerdings wies der Bau zahlreiche technische Mängel auf. Renovierung und Umbau dauerten zwei Jahre und kosteten 1,4 Millionen Mark. Im Erd- und Obergeschoss entstanden 38 Dienstzimmer, im Keller vier Gewahrsamszellen. 85 Polizeibeamte gehörten zu dem Revier, das für den Stadtteil Silberhöhe und die umliegenden Gemeinden zuständig war. In den ersten Monaten gab es zwischen den Anwohnern und den Polizisten Streit um die Parkplätze in der Ludwig-Bethcke-Straße. Deshalb wurden 1996 für die Beamten eigene Parkflächen geschaffen. Zum Jahresende 2003 ist das Revier geschlossen worden. Sachsen-Anhalt baut bis zum Jahr 2005 bei der Polizei 166 Stellen ab. In einige der frei gewordenen Räume ist inzwischen der Zentrale Verkehrsdienst der Hallenser Polizei eingezogen.
Werner-Lambertz-Straße; ab 1990: Anhalter Platz
Das Gebäude wurde 1983 als Gaststätte Silberaue eröffnet, zu Beginn in der Trägerschaft der Leuna-Werke. Zutritt hatten nur Montagearbeiter aus der Bundesrepublik Deutschland und aus Österreich, die in dem Chemiekombinat neue technische Anlagen erbauten. Für sie wurde in dem Gebäude auch ein Intershop eingerichtet.
Erst ab 1986, nachdem die Vertragsarbeiter aus dem westlichen Ausland abgereist waren, stand die Gaststätte Silberaue auch den Bewohnern des Stadtteils offen. Das Restaurant hatte hundert Plätze, hinzu kam ein Klubraum mit siebzig Plätzen. Die zweitgrößte Gaststätte des Stadtteils beschäftigte 35 Mitarbeiter. Zu den Spezialitäten der Küche gehörte gefüllte Kaninchenkeule „Birkenwäldchen“ in Sahnesauce mit gebackenem Rosenkohl und Kartoffelherzen.
Nach der Währungsunion am 1. Juli 1990 sanken die Besucherzahlen der Gaststätte um zwei Drittel. Noch im Juli ‘90versuchte der Wirt, durch Erotikabende die verloren gegangene Kundschaft aus dem Stadtteil zurückzugewinnen. Wenige Monate später musste die Silberaue schließen. Im Herbst 1991 verkaufte die Treuhandgesellschaft das Gebäude an das Karlsruher Unternehmen Pfannkuch, das rund eine Million Mark investierte, um im Sommer 1992 dort einen Supermarkt zu eröffnen. Acht Jahre später gab ihn Pfannkuch wegen Unrentabilität auf.
Straße der Nation; ab 1990 Anhalter
Im Oktober 1983 wurde das Gebäude nach anderthalb Jahren Bauzeit als zweite Kaufhalle des Stadtteils übergeben. Zu dieser Zeit lebten dort bereits rund 35.000 Bürger. Die HO-Kaufhalle Zentrum Silberhöhe beschäftigte 95 Mitarbeiter und Lehrlinge. Neben Lebensmitteln wurden auch Haushalts- und Kurzwaren sowie Bücher und Zeitschriften angeboten. Den Kiosk neben der Kaufhalle nutzen vor allem die vielen Schichtarbeiter von Halle-Silberhöhe als Früh- und Spätverkauf. Wochentags hatte das Geschäft von 6 bis 8 und von 19 bis 21 Uhr geöffnet; am Sonnabend von 11 bis 17 und am Sonntag von 9 bis 16 Uhr.
Im Sommer 1990 wurde die Kaufhalle, die inzwischen Hallmarkt-2000 hieß, umgebaut und erhielt 400 Quadratmeter zusätzliche Verkaufsfläche für Heimelektronik, Getränke, Obst und Gemüse sowie eine Schuhschnellreparatur.
Wenig später übernahm die Lebensmittelkette Edeka dieses Objekt mit 25 Beschäftigten. Im Juni 2001 wurde die Kaufhalle geschlossen. Edeka hatte im Jahr zuvor das neue Einkaufszentrum E-Center am Rande von Silberhöhe eröffnet.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen