Umbruch bei „Neon“: Nach dem Master stirbt das „wir“
„Auf dem Ozean der Optionen“: Das Magazin für „Vielleicht-Erwachsene“, die „Neon“, muss sich verändern, um bleiben zu können.
Schlägt man die aktuelle Ausgabe auf Seite 54 auf, sieht alles aus wie immer bei Neon. Da ist aus der Ferne ein nackter Mann fotografiert, der ziellos durch die Pampa flitzt – damit könnte man Texte in jedem zweiten Heft bebildern: Wann sollte man sich trennen? Sind wir wirklich frei? Kann man alleine Urlaub machen? Wie mutig bin ich? Das Foto würde eigentlich immer passen.
Noch typischer für Neon ist aber die Frage, die im zugehörigen Text aufgeworfen wird. Die Frage ist nicht zu groß und nicht zu klein, wurde aus dem Alltag der 25- bis 35-jährigen Zielgruppe destilliert und ist in Ich-Perspektive gestellt: „Führe ich mein Leben – oder führt mein Leben mich?“ Im Zwiegespräch mit sich selbst und ihrem Leben sucht die Autorin, 30 Jahre alt, dann nach einer Antwort.
Um die Allgemeingültigkeit der Frage zu belegen, zitiert sie Romanhelden und Wissenschaftler wie den Sozialforscher Klaus Hurrelmann. Und sie veredelt das Erzähl-Ich im Neon-Sound zum „Wir“: „Wir wollen mit voller Kraft durchs Leben kreuzen und in jeder Sekunde die Richtung wechseln können. Stattdessen treiben wir ziellos auf dem Ozean der Optionen herum.“ Der erste Eindruck also: Kontinuität.
Sinkende Auflage, seichte Themen
Eigentlich geht es Neon aber wie seinen Lesern; man träumt von Kontinuität, es gibt aber keine. Auch das Magazin treibt derzeit ein wenig ziellos auf dem Ozean herum. Die Auflage, die jahrelang stieg, sinkt seit drei, vier Jahren.
Neon findet heute immer noch knapp 155.000 Käufer; eine Sprecherin von Gruner+Jahr nutzt lieber eine noch schönere Währung und sagt, mit jeder Ausgabe erreiche die Zeitschrift „rund 740.000 Leser – innerhalb dieser jungen, gebildeten Zielgruppe ist das ein Spitzenwert“. Nur ist der Einbruch eben trotzdem markant.
Das beste Quartal der Neon-Geschichte war das dritte des Jahres 2011; damals wurden 255.000 Hefte verkauft. Im dritten Quartal 2014 waren es noch 168.000. Was ist passiert?
Die Verhandlungen zwischen Eurogruppe und griechischer Regierung sind gescheitert, die Banken geschlossen, am Sonntag stimmen die Menschen über das weitere Vorgehen ab. Es ist eine Woche, in der nichts mehr sicher scheint. Vier Griechen führen für uns Tagebuch. Lesen Sie ihre Einträge in der taz.am wochenende vom 4./5. Juli 2015. Außerdem: Fast übermächtig scheint Google zu sein. Als Konzern, der sich in allen Lebensbereichen breitmacht. Ein britisches Ehepaar wollte das nicht akzeptieren und hat dagegen geklagt. Und: Auch Neil Young hat sich auf seinem neuen Album einen großen Gegner vorgenommen: Er singt gegen den Chemiekonzern Monsanto an, der mit genmodifizierten Pflanzen Milliarden macht. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Da sind zum einen die üblichen Verdächtigen zu nennen: Lesegewohnheiten verschieben sich weg vom Papier, hin zum Digitalen. Dann gibt es sicherlich ganz normale Ermüdungserscheinungen.
Mit einer Reportage in Ich-Form etwa konnte man in den Nullerjahren ganz eigen klingen; heute klingt man wie ziemlich viele. Ältere Neon-Cover zeigten sehr häufig schöne, aber unbekannte junge Menschen, die sich Smileys auf den nackten Bauch malen (“Wann willst du ein Kind?“) und ironisch große Brillen tragen (“Wie wichtig ist dir dein Job?“).
Langweiliger Mainstream und Küchenopsychologie
Das Gefühl aber, man kaufe mit Neon etwas Neues, wurde möglicherweise kleiner mit jeder anderen Zeitschrift, die nicht mit Models arbeitet, und mit jedem neuen Reality-TV-Format.
Und dann haben sich auch noch die Leserinnen und Leser verändert. Der durchschnittliche Neon-Leser war nie Mitglied eines philosophischen Kolloquiums, aber doch ständig damit befasst, über das eigene Leben nachzudenken. Henri Nannen, der Erfinder des Stern, der großen Neon-Schwester im Verlag Gruner+Jahr, wollte eine Illustrierte für Lieschen Müller machen.
Verdichtet man die Neon-Leserschaft seit 2003 auf eine Figur, so ist das Lieschen Müllers Tochter, die in Münster ihren Master macht. Doch diese Figur lebt heute in einer anderen Gesellschaft als vor zehn oder zwölf Jahren.
Befragt man den von Neon zitierten Sozialforscher Klaus Hurrelmann zur Neon-Zielgruppe, sagt er, eine der stärksten Veränderungen der vergangenen zehn Jahre sei „die zunehmende Karriereorientierung“ der 20- bis 30-Jährigen. „Nicht mehr nur junge Männer, sondern nun auch junge Frauen investieren mehrheitlich viel in Bildung.“ Ihr Ehrgeiz, hohe Abschlüsse zu erreichen, sei gestiegen, aus Sorge, ansonsten durchs Raster zu fallen. „Sie orientieren sich wieder stärker hin zu materialistischen Werten“, sagt er. Fleiß, Pflicht, Ordnung seien gegenüber Kreativität und Spaß wichtiger geworden.
Von weichen Gefühlen zu harten Zielen
Man hat diese Veränderung bei Neon längst bemerkt. Der frühere Slogan „Eigentlich sollten wir erwachsen werden“ blieb in der Redaktion lange als Leitmotiv verankert: Man machte ein Heft für diejenigen, die diesen Satz zur Beschreibung ihrer Freundeskreise benutzen könnten. Heute macht man das nicht mehr. Es ist denkbar, dass die heutigen Leser eigentlich gar nicht mehr erwachsen werden sollten. Sondern dass sie es entweder einfach werden oder ebem nicht. „Das Publikum von Zeitschriften, die Teilpopulationen junger Leute ansprechen, mäandert“, sagt Klaus Hurrelmann. „Wenn man es ansprechen will, kommt es auf jeden Zungenschlag an.“ Der Neon ist womöglich ihre Eigenart abhanden gekommen.
Die Redaktion hat daher im vergangenen Jahr viel experimentiert. Die Titelthemen fielen mitunter etwas konfrontativer im Umgang mit der eigenen Leserschaft aus. „Werden wir wie unsere Eltern?“ lautete eine, „Bist du schlau genug?“ eine andere, bebildert mit einer Frau, die an einem Kaktus leckt. Und kürzlich gab es einen Relaunch. Neben Ressorts wie „Sehen“, „Fühlen“ und „Freie Zeit“ gibt es nun etwa den Teil „Machen“. So stark wie mit dem Inneren des Magazins war die Redaktion im vergangenen Jahr allerdings auch mit sich selbst beschäftigt.
Im September 2013 kündigte der Verlag, Gruner+Jahr, an, die Münchner Redaktionen bis Mitte 2014 nach Hamburg umziehen zu lassen. Eine Verlagssprecherin sagt, dahinter habe „die strategische Entscheidung“ gestanden, „eine Struktur zu schaffen, die die Zusammenarbeit und den Austausch zwischen den Redaktionen intensiviert und eine konsequentere Markenführung gewährleistet“.
Für Neon bedeutete diese Entscheidung aber nicht einfach einen Umzug. Eher könnte man sagen, dass der Verlag ein Biotop in ohnehin schwieriger Lage mit dem Schaufelbagger umgegraben und versetzt hat. Etwa ein Drittel der Redaktion weigerte sich umzuziehen, darunter die damalige Chefredaktion.
Neon war ein Magazin, das sich, bei aller Redundanz, durch Gründlichkeit und den Zungenschlag auszeichnete und das über Jahre von einer organisch gewachsenen Gruppe gemacht worden war. Nun kamen ständig neue Leute, die ihn erst lernen mussten, und gingen auch wieder. Mit dem Umzug wurde eine neue Unsicherheit implantiert.
Ganz anderer Drive
Im Mai, direkt nach dem jüngsten Relaunch und damit zu einem ziemlich merkwürdigen Zeitpunkt, übernahm eine neue Chefredakteurin, Nicole Zepter, die zuvor das kleine Magazin The Germans geleitet hat; sie will derzeit noch keine Interviews geben. Am Freitag wurde bekannt, dass sie nach nur zwei Monaten ihr Führungsteam umbaut. Ihre Stellvertreter Anke Helle und Sascha Chaimowicz sowie Art-Direktorin Ji-Young Ahn müssen gehen, im „gegenseitigen Einverständnis“, wie es offiziell heißt. Dafür schart Zepter Vertraute um sich. Jan Abele wird Berater der Chefredaktion. Er war schon bei The Germans ihr Vize. Und auch der neue „kreative Berater“ Mirko Borsche stammt von The Germans.
Die Redaktionsmitglieder, die schon länger als ein Jahr dabei sind, kann man mittlerweile an einer Hand zählen.
Bei Neon steht also ein Umbruch bevor. Und Veränderungen können ja, in der Tat, auch allem wieder einen ganz anderen Drive geben. Jenseits der Titelgeschichte (“Führe ich mein Leben, oder führt mein Leben mich?“) riecht Neon bereits ein wenig anders, weniger nach Münsteraner Liveclub, mehr nach Autorenmagazin. Der Schriftsteller Jan Brandt, bekannte Spiegel- und FAS-Mitarbeiter haben Texte für die aktuelle Ausgabe geschrieben.
Kreuzt die Zeitschrift wieder mit voller Kraft durchs Leben, oder treibt sie ziellos auf dem Ozean der Optionen herum? Man muss die Formulierungen, die man in Neon findet, nur konsequent aus ihrem Zusammenhang reißen, dann liefern sie die Auflösung selbst: „Nie war die Antwort ungewisser.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?