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Ulrike Winkelmann Ernsthaft?Eine Rentnerin sucht ihren Weg

Foto: Regentaucher

Diese Woche tauchte eine neue politische Figur in Berlin auf, ein halbes Jahr war sie mit Spannung erwartet worden: die Ex-Bundeskanzlerin.

An Angela Merkel als Kanzlerin können sich die meisten vermutlich noch erinnern. Aber wie sie als Ex-Kanzlerin aufträte, das blieb bisher der informierten Merkel-Spekulation überlassen – ein Genre, das in ihrer letzten Amtsphase noch einmal aufblühte, als Merkels Vermächtnis, ihr Bild in den Geschichtsbüchern, ihr politisches Nachglühen verhandelt wurden. Seit vergangenem Dienstag, dem Abend, an dem die Ex-Kanzlerin im Berliner Ensemble vom Spiegel-Reporter Alexander Osang mehr bequatscht als befragt wurde, wissen wir mehr.

Die Latte lag tief. Zum Vergleich: Als Gerhard Schröder abgetreten war, stieg er bei Gazprom ein, redete der Großen Koalition in die Nahostpolitik hinein, wurde in den BND-Untersuchungsausschuss geladen und prozessierte dagegen, dass er im Urlaub fotografiert worden war. Helmut Kohl wurde nach seinem Abgang umgehend von der CDU-Spendenaffäre verfolgt. Und Helmut Schmidt war ein schrecklich arroganter Besserwisser, der sich über Jahrzehnte von der Zeit als Kultfigur verkaufen ließ. Wenn eine Ex-Kanzlerin einfach erst einmal an die Ostsee fährt, wegen der Ruhe, und nach Italien, wegen der Kunstschätze, darf die deutsche Öffentlichkeit also erleichtert sein.

Sie suche ihre Rolle, ihren „Weg“ als Bundeskanzlerin a. D. noch, gab Merkel offen zu. „Ein bisschen was fürs Land“ wolle sie schon noch tun. Doch es zeigte sich – auch in den Reaktionen auf ihren Auftritt: Angesichts der aktuellen Umstände reicht es nicht, unkorrupt, unpeinlich und unverbohrt zu sein. Der Krieg in der Ukraine wirft ohnehin mehr Fragen auf, als an einem Abend auf einer Theaterbühne zu beantworten wären. Merkels rhetorisches Strickmuster, „Ich habe alles getan, und ansonsten waren andere Kräfte am Werk“, bedeckt jedoch die Blöße nicht, die das demokratische Europa angesichts der russischen Aggression zeigt.

„Ich mache mir jetzt keine Vorwürfe“, sagte Merkel, erste Person Singular. Die Probleme dagegen finden bei ihr in der dritten Person statt: „Es ist nicht gelungen, eine Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die dieses hier hätte verhindern können. Darüber muss man schon nachdenken, aber das werden Historiker dann noch tun.“ Sie jedenfalls nicht, scheint’s.

Ulrike ­Winkelmann ist Chef­redakteurin der taz.

Kleinere Zugeständnisse – es liege ihr „schwer im Magen“, im Juli 2021 keine Einigkeit in der EU für ein ernstes Gespräch mit Putin hergestellt zu haben – waren zu klein, um nicht nach Ablenkungsmanöver zu riechen. Nord Stream 2 findet sie erkennbar belanglos. Die schlicht katastrophale Abhängigkeit Deutschlands vom russischen Gas ist ihr keinen einzigen Satz wert.

Die vielstimmige Empörung darüber, dass Merkel sich diese Woche für nichts entschuldigt habe, wirkt allerdings auch übersteuert. Hätte irgendwer in diesem Rahmen eine durchtemperierte Demonstration von Bußfertigkeit erwartet? Doch wohl nur in der Annahme, Merkel würde auch als Ex-Kanzlerin die üblichen Amtsdimensionen sprengen. Deutlich geworden ist indes dies: Das stets Heruntergekochte an Merkels Auftreten, das Ultrapragmatisch-Unbeholfene ihrer Art zu reden wird der Lage nicht mehr gerecht. Merkel ist geschrumpft. Wir haben sie im Format einer Rentnerin kennengelernt, die sich keine Vorhaltungen mehr machen lassen will.

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