Ulrich Meyer: "Ich bin der Derrick des Privatfernsehens"
Ulrich Meyer moderiert seit 13 Jahren die Sat.1-Sendung "Akte" - am Dienstag zum 600. Mal. Warum er noch lange nicht aufhören will, erklärt er im taz-Interview.
taz: Herr Meyer, wissen Sie schon, was Sie in der Jubiläumssendung tragen werden?
Ulrich Meyer: Natürlich noch nicht im Detail, aber es wird vermutlich die Auswahl aus sechs Anzügen bestehen, von denen zwei dunkelblau sind, zwei grau - die trage ich nicht so wahnsinnig gerne - und zwei eher im sommerlichen Bereich. Aus Anlass der 600. Sendung werde ich aber wahrscheinlich eher dunkel gewandet auftreten, um meine Zuschauer nicht zu enttäuschen.
Es stimmt also, dass Sie die Anzüge den Themen der jeweiligen Sendung anpassen?
Ja, Sie müssen ständig verblüffen. Gleichzeitig müssen Sie aber versuchen, die Menschen, für die Sie der Kapitän durchs Leben sind, nicht allzu sehr zu vergrätzen. Wenn es also um hochseriöse Themen geht - etwa aus den Bereichen Medizin, Geheimdienst oder Polizei - kleide ich mich bevorzugt hell oder zumindest sommerlich, wenn es der Jahreszeit angemessen ist. Wenn es eher leichte Themen sind, trage ich gerne Dunkelblau, weil der Zuschauer dann den Eindruck hat, wenn der Meyer mir das in diesem Outfit sagt, dann ist das wohl von besonderer Bedeutung.
Sie glauben, der Zuschauer merkt das?
Das weiß ich sogar. Ob er in der Anzugfrage genauso denkt wie ich, ist eine andere Frage. Ich hatte probehalber im Frühjahr mal auf meine Krawatte verzichtet und bekam daraufhin körbeweise Briefe mit dem Tenor "Bitte sofort wieder mit Krawatte! Wir kennen Sie so, und ohne sind Sie nicht unser Ulrich Meyer".
Worum wird es in der 600. Sendung gehen?
Auch um starke Frauen.
Warum?
Beim Blick in die Archive ist uns aufgefallen, dass die Menschen, die sich bei uns gut aufgehoben fühlen, die unsere Sendung tragen, die ihr Schicksal vor uns ausbreiten, überwiegend Frauen sind. Wir haben in 600 Folgen viele Frauen kennengelernt, die ihr schweres Schicksal mit einer Stärke tragen, die uns vorbildhaft erscheint. Wir schauen deshalb, wie deren Geschichten weitergegangen sind, nachdem wir über sie berichtet haben. Denn Sie können journalistisch so sauber auf Wiedervorlage arbeiten, wie Sie wollen - irgendwann verliert man die Menschen dann doch aus dem Blick.
Also es wird durchaus selbstreferenziell?
Darin sind wir besonders stark. Entscheidend dabei ist, dass wir keine Nabelschau betreiben, bei der wir uns selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern immer unsere Kunden, unsere Zuschauer und deren Schicksale. Wir wollen ja nicht sagen: So toll waren wir damals - und so toll sind wir heute und werden es auch in 20 Jahren noch sein. Diese Haltung überlassen wir dem Feuilleton.
Aber genau das ist doch der Subtext: Die "Akte" ist toll. Deutschland braucht die "Akte".
Das ist der Subtext seit dem 4. Januar 1995. In einer Sendung, die im 13. Jahr läuft und nun ihre 600. Ausgabe feiert, müssen Sie diesen Subtext weder feinsinnig insinuieren noch präzise aussprechen. Deutschland braucht die "Akte" offensichtlich - gut, jedenfalls große Teile der Sat.1- Zuschauerschaft, die uns schreibt. Die das Gefühl hat: Wenn mir einer helfen kann, dann die "Akte" - in teilweise dramatischer Überschätzung der Möglichkeiten von Journalismus. Auch wenn Sie drüber lächeln, ist es dieses Hilfebedürfnis, das unseren Zuschauer auszeichnet. Und das nehmen wir sehr ernst.
Warum unterstellen Sie mir, dass ich drüber lächle?
Weil Sie drüber lächeln.
Ich bin eben ein grundsätzlich positiver Mensch.
Ich auch. Schon wieder etwas, was uns verbindet.
Schon wieder?
Ich leiste mir den Luxus, ein freundlicher Mensch zu sein.
Das hört man immer wieder. Warum sieht man davon auf dem Bildschirm so wenig?
Soll der Weiße Ritter der Zuschauer ein Grinser sein? Wohl kaum. Ich habe eben einen Ausschnitt meiner Person gewählt, den ich dem Zuschauer zuwende; das ist aber mit Sicherheit kein Verstellen meiner Persönlichkeit. Insofern habe ich kein Problem damit, was ich mache, und erst recht nicht, wie ich es mache. Eines Tages werden meine Moderationen im Deutschunterricht gelesen werden - aber das werden wir nicht mehr erleben.
Als Beispiel wofür werden sie gelesen werden?
Für - nein, die Komplettierung dieses Satzes würde ich gerne Ihnen überlassen.
Nicht kneifen jetzt!
Als Beispiel für präzisen und sprachlich eleganten Ausdruck auf engstem Raum - (zu seiner Assistentin, die daneben sitzt) jetzt grinst er schon wieder. Merkst du das? Das sind aber keine Comedylines, die ich da verfasse.
Sie meinen also alles ernst, was Sie in Ihrer Sendung sagen?
Ja, ich nehme das ernst. Wer immer darüber lächeln möchte, soll lächeln. Mein größter Erfolg ist, dass ich mich darüber nicht mehr ärgere. Ich nehme meinen Zuschauer ernst, ich nehme ernst, mit welchen Maläsen er zu uns kommt, und ich nehme ernst, was wir als Lösungen erarbeiten und ihm anbieten können. Das ist häufig so unendlich viel mehr, als viele andere Formate, die ähnlich arbeiten, überhaupt erreichen. Die Arbeit der öffentlich-rechtlichen Kollegen gilt von vornherein als hochseriös und wird nicht in Frage gestellt. Mich fragt man, ob ich das ernst nehme. Und wenn darauf wieder alle schäumend reagieren - ja, ich nehme das ernst und sage das auch ganz laut. Ich nehme nämlich meinen Zuschauer, ich nehme das Prekariat ernst. Ich nehme Menschen ernst, die sich an uns wenden und von uns Hilfe erhoffen.
Sie gefallen sich in der Rolle des Prügelknaben.
Dass ich persönlich eine wesentliche Mitschuld am Untergang des Abendlands tragen soll, habe ich 1989 zum ersten Mal gehört. Seit "Der heiße Stuhl" stehe ich in der ersten Reihe derer, die des Teufels sind. Es muss für das kulturelle Establishment furchtbar gewesen sein, was wir da gemacht haben: die totale Personalisierung aller möglichen Fragen. Lange habe ich mich gefragt, warum die Feuilletons mich nach anfänglicher Begeisterung nicht mehr lieben. Dann habe ich mir abgewöhnt, es zu lesen, weil ich gelernt hatte, dass manche Journalisten nicht in Nuancen denken wollen und nur für ihre Peer Group schreiben. Ich verweise an dieser Stelle auf mein Spätwerk, das niemanden enttäuschen wird.
Warum machen Sie eine Sendung, für die Sie nur Prügel beziehen?
Nur Prügel? Friedrich Nowottny hat mal zu mir gesagt: "Junger Mann, Sie haben Talent, aber Sie haben es am Anfang völlig falsch angestellt." Ich bin der Meinung, so viel gar nicht falsch gemacht zu haben. Für uns sind unsere Zuschauer wichtig und nicht unsere journalistischen Egos. Die "Akte" ist eine Form von Demokratisierung des Fernsehens. Hier geht es nicht um die Probleme der Großen und Mächtigen, die sowieso immer Gehör finden, sondern um die Probleme derjenigen, die keinen eigenen Rechtsanwalt haben und oft noch nicht einmal Mitglied im Mieterverein sind und für die das immer komplizierter werdende Leben da draußen, das Teile der Bevölkerung mit links erledigen, nicht mehr zu wuppen ist. Die "Akte" leistet Lebenshilfe.
Zusammengefasst ist die "Akte" also ein einziger Komplexitätsminderer?
Tolle Vokabel. Vor allen Dingen aber bringen wir über unsere Berichterstattung einen wichtigen Subtext in die Wohnzimmer: Wehr dich! Handle! Tu was! Das ist im Prekariat nicht so verbreitet. Dort herrscht die Kopf-in-den-Sand-Technik vor. So nach dem Motto: Wenn ich den Brief nicht aufmache, dann ist er auch nicht für mich. Wir halten dagegen: Mach die Post auf! Mach sie zeitig auf! Halt die Fristen ein!
Kann Fernsehen die Welt überhaupt besser machen?
Fernsehen macht die Welt bunter - seit der Einführung des Farbfernsehens 1967. Das Fernsehen bringt Menschen zum Lachen wie wenig sonst. Und die schönsten Gedanken, zu denen Menschen fähig sind, wurden nicht zuletzt durchs Fernsehen verbreitet, und zwar in mittlerweile wesentlich stärkerer Zahl als durch Bücher. Ich stelle mich gerne hin und lasse mit Fingern auf mich zeigen, aber ich glaube, dass Fernsehen die Welt besser machen kann - und wenn es nur dazu beiträgt, dass so viele Frauen wie nie zuvor dank Heimwerkersendungen einen Dübel in die Wand hauen können.
Habe ich das richtig verstanden: Sie halten das Fernsehen für wichtiger als Bücher?
Selbst wir Bücherfreunde müssen uns mit diesem Gedanken abfinden. Dass das bewegte Bild dem gedruckten Wort immer mehr den Rang abläuft, das sehen wir, wenn wir bei unseren Protagonisten in die Bücherregale schauen. Da stehen dann 14 Titel inklusive Bibel und Grundgesetz - neben ungefähr 200 DVDs.
Haben Sie noch einen journalistischen Traum?
Es ist eines meiner großen Ziele, noch mal zu talken - ein im Privatfernsehen schwieriges Unterfangen.
Steht dann die "Akte" zur Disposition?
Nein. Ich bin der Derrick des Privatfernsehens, okay. Und ich ziehe aus der "Akte" eine hohe Form von Befriedigung. Hinzu kommt, dass ich als TV-Produzent Arbeitgeber bin, und zwar auf altfränkische Art und Weise. Ich fühle mich für das Wohl und Wehe meiner Mitarbeiter verantwortlich und werde niemals derjenige sein, der à la Harald Schmidt seine Leute einfach nach Hause schickt, wenn er keinen Bock mehr auf ein Format hat. Ich habe nicht das Recht, nur nach dem Lustprinzip zu arbeiten.
Werden Sie mit der "Akte" in Rente gehen?
Ich werde - auch wenn es in Ihren Ohren wie eine Drohung klingen mag - die "Akte" noch lange durchhalten. Eines Tages werde ich freiwillig gehen. Den Zeitpunkt habe ich sogar schon bestimmt.
Wann denn?
Ach, wenn Sie mögen, führen wir noch ein paar Jubiläumsgespräche
INTERVIEW: DAVID DENK
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