Ukraine: Die Revolution ist verblasst
Drei Jahre nach der "orangen Revolution" ist die Ukraine ein zerrissenes Land. Bei den Wahlen hat die Partei des einstigen Wahlfälschers und Ministerpräsidenten Janukowitsch die besten Chancen.
Haben die Menschen in der Ukraine wieder davor Angst, ihre Meinung offen zu äußern? "Ich rede nicht mit Ihnen, gehen Sie zum Wahlstab", sagt der Wahlhelfer der "Partei der Regionen" ungehalten. Der Mittvierziger kauert im Podol, dem historischen Handels- und Hafenviertel von Kiew, auf einem Klappstuhl unter einer himmelblauen Plastikplane. Vor ihm stapeln sich gleichfarbige Broschüren. "Stabilität und Wohlstand - sozialer Erfolg" steht darauf. Zahlreiche Schaubilder informieren darüber, welche Wohltaten die Menschen erwarten, falls die Partei des amtierenden Ministerpräsidenten Wiktor Janukowitsch die Parlamentswahlen am Sonntag gewinnt.
Bei den Wahlen am Sonntag bewerben sich rund zwanzig Parteien und Bündnisse um die 450 Sitze des ukrainischen Parlaments. Gewählt wird nach dem reinen Verhältniswahlrecht. Damit die Wahl gültig ist, muss sich die Hälfte der Stimmberechtigten an ihr beteiligen.
Fünf Parteien haben eine reelle Chance, die Dreiprozenthürde zu überwinden: die prorussische Partei der Regionen (2006: 32,4 Prozent), der populistisch-liberale Block Julia Timoschenko (22,2), die bürgerliche Partei Unsere Ukraine (13,9) und die Kommunistische Partei (2,6). Aussichten hat zudem der wirtschaftsliberale Block Litwin des früheren Parlamentspräsidenten Wladimir Litwin, der zum ersten Mal antritt. Diesem Block könnte bei der Koalitionsbildung eine ausschlaggebende Rolle zuteil werden. BO
Dann lässt sich der Wahlhelfer doch auf ein Gespräch ein. "Ich bin gegen Janukowitsch", sagt er, also gegen den Mann, für den er Werbung macht. "Janukowitsch und seine Mannschaft, das sind doch alles Banditen, die das Land ausplündern!" Im Osten des Landes, im Donetzker Gebiet, wo Janukowitsch früher Gouverneur war, würden die Menschen eingeschüchtert und seien von Informationen abgeschnitten. Viele würden nach Kiew gehen, weil sie im Osten keine Arbeit fänden. "Wenn Janukowitsch wieder an die Macht kommt, wird das ganze Land zu einem großen Gefängnis." Warum er trotzdem hier sitzt? "Die zahlen gut, 70 bis 100 Griwna am Tag." Das sind zehn bis 13 Euro. Jeder müsse sehen, wie er überlebe, und er habe eine kranke Mutter, sagt er kaum hörbar und blickt dabei ständig auf einen jungen Mann, der mit ihm gemeinsam den Stand zu verwalten scheint und rauchend an einem Baum lehnt. "Der ist für Janukowitsch. Ich will nicht, dass er erfährt, wie ich wirklich denke."
Knapp drei Jahre nach der viel gepriesenen "Orange Revolution", die das Land in den Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit rückte, leben 29 Prozent der 48 Millionen Ukrainer unter der Armutsgrenze. Die Renten belaufen sich im Durchschnitt auf umgerechnet 100 Euro, die Gehälter auf 170 Euro.
Dass die Ukrainer das letzte Mal ein neues Parlament wählten, ist gerade einmal anderthalb Jahre her. Zum Entsetzen der Anhänger der "Orange Revolution" wurde Wiktor Janukowitsch mit seiner Partei der Regionen zur stärksten Kraft im Parlament - derselbe Janukowitsch, der sich im Herbst 2004 mit der tatkräftigen Unterstützung der russischen Regierung durch Wahlfälschungen das Präsidentenamt sichern wollte. Erst nach wochenlangen Protesten, die als "orange Revolution" Geschichte machten, wurde eine neue Stichwahl angesetzt, die sein Widersacher Wiktor Juschtschenko knapp gewann.
Nach seinem Erfolg bei den Parlamentswahlen gelang es Janukowitsch, außer den Kommunisten, die ihn von Anfang unterstützt hatten, auch die Sozialisten für sich zu gewinnen, indem er ihnen den Posten des Parlamentspräsidenten überließ. Noch im Herbst 2004 hatten die Sozialisten an der Seite der orange Revolutionäre Wiktor Juschtschenko und Julia Timoschenko gestanden.
In den folgenden Monaten lieferten sich der Präsident und die Regierung einen erbitterten Machtkampf. Die Situation eskalierte im Frühjahr, als ruchbar wurde, dass Janukowitsch Abgeordnete anderer Fraktionen gegen Zahlung großzügiger Summen abgeworben hatte, um sich auf diesem Weg eine Zweidrittelmehrheit im Parlament zu beschaffen. Staatspräsident Wiktor Juschtschenko löste das Parlament kurzerhand auf und ordnete Neuwahlen an.
Ob diese den monatelangen politischen Stillstand beenden können, ist jedoch fraglich. Den letzten Umfragen zufolge dürfte sich an den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen nur wenig ändern. So wird die Partei der Regionen mit 29 bis 33 Prozent erneut als stärkste Kraft gehandelt. Janukowitsch lockt Wähler im russischsprachigen Osten und Süden damit, in Referenden über die Neutralität des Landes sowie die Einführung des Russischen als zweite Amtssprache abstimmen zu lassen. Der BJuT, der Partei der ehemaligen Ministerpräsidentin und jetzigen Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko, werden zwischen 19 bis 23 Prozent vorhergesagt; Juschtschenkos Partei Unsere Ukraine 10 bis 13 Prozent. Zudem dürften mit jeweils drei bis fünf Prozent die Kommunisten sowie der erstmalig antretende "Block Litwin" des ehemaligen Parlamentspräsidenten Wladimir Litwin den Sprung ins Parlament schaffen. Die Sozialisten hingegen dürften ihren Seitenwechsel damit bezahlen, aus dem Parlament zu fliegen.
"Natürlich werden diese Wahlen die Krise nicht lösen, aber sie sind eine Rückkehr zum Ausgangspunkt im Jahr 2006. Zu dem Zeitpunkt also, bevor die Sozialisten zu Janukowitsch übergelaufen sind", sagt der Politologe Alexander Suschko. "Wenn aber jetzt eine Koalition die Mehrheit bekommt, wird das das Ergebnis des Volkswillens sein und nicht irgendeiner nachträglichen und korrupten Abmachung im Parlament."
Auch wenn sich die künftige Koalition auf eine neue Legitimität berufen kann, zeichnet sich bereits jetzt ab, dass die Parteien dazu entschlossen sind, ihren Machtkampf nach den Wahlen wieder einmal vor Gericht auszutragen.
So untersagte die Zentrale Wahlkommission auf Antrag der Sozialisten dem Staatspräsidenten Juschtschenko, sich am Wahlkampf zu beteiligen. Über eine Beschwerde von Juschtschenko und der Partei Unsere Ukraine muss jetzt ein Gericht entscheiden. Juschtschenko lächelt auf Plakaten der Partei mit dem Slogan "Gleiches Recht für alle", zudem hatte er öffentlich dazu aufgerufen, für Unsere Ukraine zu stimmen.
Damit nicht genug, kursieren wieder Gerüchte über Wahlfälschungen. Anlass zur Sorge gibt es tatsächlich. Mussten bei den letzten Parlamentswahlen noch Wähler, die krankheitsbedingt am Wahltag nicht im Wahllokal erscheinen konnten und zu Hause abstimmen wollten, ein ärztliches Attest vorzulegen, genügt inzwischen eine persönliche Erklärung. Zudem dürfen Wähler nur noch an dem Ort abstimmen, an dem sie gemeldet sind.
"Rund eine Million Ukrainer werden nicht wählen können, da sie woanders arbeiten und leben. Viele haben nicht die Mittel, um zu den Wahlen in ihren Heimatort zu reisen", sagt Andrej Jazimirski vom Komitee der Wähler der Ukraine. Die Nichtregierungsorganisation wird am Wahltag mit 3.000 bis 5.000 ukrainischen Mitarbeitern die Wahllokale beobachten. Für genauso problematisch wie den Ausschluss von einer Million Wählern hält Jazimirski die Wanderurne. "Da wird dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Diese Fälle können gar nicht einzeln überprüft werden, und was zu Hause abläuft, kann keiner kontrollieren", sagt er. Doch nicht nur das veränderte Wahlgesetz könnte Fälschungen erleichtern. Auch die Wählerlisten hält Jazimirski vielerorts für mangelhaft. Nicht selten fänden sich darauf Verstorbene.
Der Politologe Alexander Litwinenko rechnet nach den Wahlen mit einer Klagewelle. "Das eigentliche Problem dabei ist, dass unsere Gerichte dieser Herausforderung in keiner Weise gewachsen sind. Die Justiz ist bei uns die schwächste Staatsgewalt, sie ist korrupt und hochgradig politisiert", sagt er. Dass eine Justizreform bisher nicht stattgefunden habe, sei kein Zufall. "Schließlich profitieren die Politiker davon."
Nicht nur die Gerichte, auch die Straße könnte wieder zum Schauplatz der Auseinandersetzung werden. So hat sich die Partei der Regionen mit ihren Ständen auf dem Platz der Unabhängigkeit breitgemacht. Eine kleine Zeltstadt kündet vom der Entschlossenheit einiger Anhänger, auch über den Wahltag hinaus hier auszuharren und gegebenenfalls gegen das Ergebnis zu protestieren. Die Partei der Regionen habe eine spezielle Beziehung zu diesem Platz, meint Alexander Suschko. "Das ist so ein irrationales Streben, sich eines Ortes zu bedienen, der mit der Revolution verbunden ist. Die Partei glaubt, dass, wer diesen Platz besitzt, auch die Wahlen gewinnen wird."
Derweil hat die Partei Julia Timoschenkos den Sophienplatz in Beschlag genommen. Vor einem der weißen Stände, auf denen rote Herzen mit dem Schriftzug Julia prangen, steht ein alter Mann. Er verteilt Porträts der Spitzenkandidatin, auf denen sie mit einer schneeweißen, kunstvoll bestickten Bluse verträumt zum Himmel blickt. "Julia wurde uns von Gott gesandt, und sie wird die Ukraine retten. Sie werden sehen, wenn Julia die Wahlen gewinnt, wird unser Land schon im nächsten Jahr blühen", sagt er und streichelt liebevoll das Bild seiner Angebeteten.
Auf dem Sophienplatz verwickeln die Wahlhelfer die Passanten in Gespräche. Viele zeigen sich interessiert. Allem Chaos und allen Enttäuschungen zum Trotz wollen sich sieben von zehn Ukrainern an den Wahlen beteiligen.
"So ist unsere Mentalität", sagt ein junger Mann, der vor einem Stand stehen geblieben ist und, wie er erzählt, bis vor kurzem für einen Abgeordneten von Julia Timoschenkos Partei als Assistent gearbeitet hat. "Die Ukrainer geben ihre Stimme nicht mehr verloren. Und das ist ganz ohne Frage auch ein Erbe der orange Revolution."
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