: Ukraine: Mysteriöser Tod zur rechten Zeit
Das plötzliche Ableben eines Gangsterbosses bringt die Regierung von Staatschef Kutschma in Erklärungsnot
BERLIN taz ■ Ein plötzliches Ableben in Haft oder Polizeigewahrsam sind in der Ukraine nichts Ungewöhnliches. Doch der Tod von Igor Gontscharow in einem Krankenwagen Anfang August könnte jetzt die Staatsführung wieder einmal in Bedrängnis bringen. Der 44-jährige Gontscharow befand sich seit vergangenem Mai in Haft. Als Chef einer kriminellen Gang aus ehemaligen Polizisten und Geheimdienstmitarbeitern, den „Werwölfen“, soll er an der Entführung mehrerer Geschäftsleute und deren Ermordung beteiligt gewesen sein. Und nicht nur das: Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft geht auch der Tod des Journalisten Georgi Gongadse auf das Konto der „Werwölfe“.
Dessen Fall hatte im Jahre 2000 beinahe den Sturz der Regierung verursacht. Gongadse war im September 2000 unter mysteriösen Umständen verschwunden. Zwei Monate später wurde in einem Waldstück bei Kiew eine kopflose Leiche gefunden. Kurz darauf tauchten illegal mitgeschnittene Tonbandaufnahmen eines ehemaligen Leibwächters von Staatspräsident Leonid Kutschma auf. Diese geben angeblich Gespräche Kutschmas mit einigen seiner Vertrauten wieder, wie man Gongadse am besten aus dem Weg räumen könne. Bis heute ist kein Licht in das Dunkel des Falles Gongadse gebracht worden. Das hätte sich in Kürze ändern können, denn noch im Laufe dieses Monats wollte Gontscharow auspacken.
Vor wenigen Tagen nun veröffentlichte die ukrainische Nichtregierungsorganisation Institute for Mass Information (IMI) auf ihrer Website Auszüge eines 17-seitigen handschriftlichen Briefes. Diesen, so das IMI, habe Gontscharow der Organisation vor einiger Zeit mit der Maßgabe zukommen lassen, ihn erst nach seinem Tode zu öffnen. Darin kündigt Gontscharow unter anderem an, Informationen über die Mörder Gongadses zu haben (ein Geständnis inklusive), diese den Ermittlern aber nur in Anwesenheit unabhängiger Zeugen übergeben zu wollen. Mehrmals, so Gontscharow, sei er von Angehörigen der Abteilung für Organisierte Kriminalität gefoltert worden. Und: „Man wird mich umbringen und dann den Tod als Selbstmord oder Folge einer Krankheit darstellen.“
Zwar ist nach Angaben einer IMI-Mitarbeiterin die Authentizität des Schreibens noch nicht bewiesen. Doch allein die Tatsache, dass der Fall Gongadse wieder auf der politischen Agenda steht, dürfte Kutschma und seiner Regierung alles andere als gelegen kommen. Deren Image ist nachhaltig durch den Vorwurf dubioser Waffengeschäfte mit dem Irak angeschlagen.
Für Jaroslaw Koschiw, Autor eines Buches über den Tod von Gongadse, besteht kein Zweifel daran, dass Präsident Kutschma und andere hochrangige Politiker in den Mord an dem Journalisten verstrickt sind. Die Vorwürfe gegen Gontscharow seien konstruiert worden, und die Behörden hätten kein Interesse daran, jemals die Wahrheit herauszufinden. Diese These wird durch ein weiteres Indiz gestützt: Obwohl die Ermittlungen zur Todesursache noch liefen, wurde die Leiche Gontscharows bereits zwei Tage nach seinem Tod eingeäschert.
BARBARA OERTEL