Überfall im U-Bahnhof: Die Krise als Chance sehen

Stimme meiner Generation: Aron wird ausgeraubt. Keinen interessiert's. Kann Christian Lindner helfen?

Ein oberkörperfreier, geschminkter Mann mit Sonnenbrille trägt eine Sonnenbrille und hält ein Bier in seiner Hand.

Aron wurde nach dem Feiern ausgeraubt, will sich die Stimmung aber nicht verderben lassen Foto: picture alliance / dpa

Von Aron Boks

taz FUTURZWEI, 05.05.22 | Ich ging früh am Morgen aus meinem Lieblingsclub in Kreuzberg nach Hause und trat in den nah gelegenen U-Bahnhof.

„Hey, hast du ein Feuerzeug?“, fragte mich ein Mann mit großen tiefbraunen Augen, höchstens Anfang zwanzig. Berauscht von clubbedingter Weltliebe, mochte ich diesen Typen sofort und begann deswegen, breit zu grinsen.

Ab dann ging es auch schon bergab: Ich bin Raucher und ging fest davon aus, dass ich ihm helfen konnte, trug aber ausgerechnet in diesem Moment kein Feuerzeug bei mir. Und da ich offensichtlich sehr neben mir stand, fühlte ich mich moralisch verpflichtet dies dem Typen auch ausführlich zu erklären.

Aron-Boks

Aron Boks und Ruth Fuentes schreiben die neue taz FUTURZWEI-Kolumne „Stimme meiner Generation“.

Boks, 26, wird gefördert von der taz Panter Stiftung.

Er wurde 1997 in Wernigerode geboren und lebt als Slam Poet und Schriftsteller in Berlin.

Fuentes, 28, ist taz Panter-Volontärin in der taz-Redaktion.

Sie wurde 1995 in Kaiserslautern geboren und ist seit Oktober 2021 taz Panter Volontärin.

„Dann gib mir wenigstens einen Euro, dass ich mir ein Feuerzeug kaufen kann.“, sagte er laut.

Das klingt fair, redete ich mir mit meiner Post-Party-Harmoniebedürftigkeit ein und kramte in meinem Portemonnaie.

„Hab‘ nichts”, sagte ich nach einer Weile.

„Klar, hast du da was”, sagt er. Und damit hatte er Recht, schließlich zeigte er auf meinen einzigen und gut sichtbaren 50 Euro Schein.

„Sorry, das geht nicht”, sagte ich etwas hastiger. „Ich hab‘ nichts.“

„Doch hast du!“

„Nee!“

„Doch!”

Eins kam zum anderen und dann lag ich auf dem Boden, ohne den 50-Euro-Schein; der Mann brüllte einem seiner Kollegen nicht gerade subtil „Ralf, schnapp dir den Spast!“, entgegen. Aber ich konnte mich irgendwie in der nächstgelegenen Kneipe in Sicherheit bringen.

„Ich … Ich …”, rief ich den Stammgästen im Schock zu. „Ich wurde gerade zum ersten Mal ausgeraubt!”

„Kannst du deswegen nicht die Tür zu machen?”, brüllte einer der Männer zurück, von einem der Kneipen–Spielautomaten aus und ohne dabei aufzusehen. Genau wie der Rest der Männer, die vermutlich um diese Zeit immer hier sitzen.

Keine Spur von Hilfe, gar nichts.

Probleme sind nur dornige Chancen

Am nächsten Tag massiere ich meine alkohol- und sorgenpochenden Schläfen. Ich darf das nicht zu sehr an mich ranlassen, denke ich. Ich liebe das Berliner Nachtleben, das mir pandemiebedingt so lange verwehrt geblieben ist. Jetzt bloß kein Trauma aufbauen, sondern Psychohygiene betreiben. Aber ausgerechnet in dieser Woche muss mein Therapeut Urlaub machen. Bleibt also nur: Selbsthilfe.

Also mal langsam, denke ich. Global gesehen reiht sich dieses Krisenereignis ganz weit hinten ein. Die Ukraine ist von Russland überfallen worden, zudem droht die Klimakatastrophe und die Corona-Pandemie wütet seit über zwei Jahren – und trotzdem sprechen Menschen sogar in diesen Zusammenhängen von „Chancen“ und nennen dann etwas wie Investitionen, Innovationen und das Schaffen neuer gesellschaftlicher Werte.

Und wenn Menschen meiner links-liberalen und nebenjobfrustrierten Bubble Christian Lindners Spruch „Probleme sind nur dornige Chancen“ verspotten, ist das vielleicht auch zu einfach. Immerhin war er damals ein Teenager, blieb in der FDP, die es bundesweit nicht immer leicht hatte, wurde Parteichef, regierte einmal fast, dann doch nicht und ist jetzt Finanzminister. Der Mann lebt sein Motto!

Geld oder Punkte auf dem Karmakonto?

Ich dachte: Vielleicht brachte auch dieser Überfall tatsächlich etwas wie eine Chance mit sich. Vielleicht war dieser Typ im U-Bahnhof einfach in großer Not. Vielleicht war es also absolut notwendig, dass ich an ihm vorbeilief, weil er einfach dringend 50 Euro und ein Feuerzeug brauchte. Vielleicht musste er so ein bisschen weniger hungern oder dealen. Und was sind 50 Euro gegen ein paar Punkte auf dem viel wichtigerem Karmakonto? Ja, vielleicht hatte all das sogar etwas Gutes. Sogar für mich.

Eine Woche später entscheide ich mich also wieder, in meinen Lieblingsclub zu gehen und tanze dort eine Nacht durch. So leicht kriegen die Pessimisten mich nicht!, rede ich mir ein und beschließe sogar, wieder mit der U-Bahn nach Hause zu fahren.

Aber leider wartet im Bahnhof allen Ernstes wieder ein altbekannter Typ, der meine geklauten 50 Euro offensichtlich nicht nachhaltig investiert hat. Jedenfalls ruft er: „Hey, hast du ein Feuerzeug?“

Man mag es wohlwollend Kraft der Erfahrung nennen; ich spüre aber einfach nur eine Heidenangst und renne wieder in die Kneipe vom letzten Mal.

„Das da draußen muss eine organisierte Bande sein!”, rufe ich aufgeregt durch den Raum. „Das gibt es doch nicht! Fast hätten die mich wieder…”

„Fresse halten”, ruft ein Mann, der vor einem flackernden Bildschirm sitzt.

Durchhalten mit Freibier

Ich setze mich mit den Rücken zu den Automaten an einen der freien Stühle. Christian Lindner kann mir erzählen, was er will, denke ich. Probleme und Krisen sind einfach nur ätzend. Der Typ im U-Bahnhof ist nicht anders drauf als der Junge aus der 5. Klasse, der mir jeden Tag mein Käsebrötchen geklaut und Prügel angedroht hatte, wenn ich petzen würde. Solche fiesen Typen gibt es überall. Das birgt keine Chancen, nur Hunger und Angst. Die Welt ist ungerecht und am Ende bist du immer irgendwie allein. Basta.

Als ich gerade anfangen will zu heulen, kommt der Kellner. „Was darf’s sein?“, fragt er.

Ich wühle in meinen Taschen.

„Hab' kein Bargeld“, sage ich.

„Macht doch nichts“, sagt der Kellner und stellt mir ein Bier vor die Nase.

Man muss die Guten in der Welt zum Durchhalten motivieren, denke ich. Da hilft schon so ein unverhofftes Freibier. Es erinnert einen, dass nicht in allem Schlimmen eine Chance gefunden werden muss. Vielleicht muss man vielmehr das Positive wertschätzen, um es nicht als Verbündeten im ständigen Kampf gegen das Schlechte in der Welt zu verlieren.

„Prost“, rufe ich und trinke das Bier aus.

„Vier Euro!“, sagt der Kellner.

„Ich sagte doch – ich hab‘ nichts“, sage ich erschrocken.

Er führt mich routiniert zum Geldautomaten vor der Kneipentür.

Als ich wieder am Tresen stehe, gebe ich ihm einen Zehn-Euro Schein, bestelle einen Schnaps und sage so cool wie möglich: „Behalt' den Rest.“

Irgendwann wird es sich auszahlen, ein guter Typ zu sein, denke ich, als ich zu Fuß nach Hause gehe. Bis dahin gilt es, nicht durchzudrehen.

Die Kolumne „Stimme meiner Generation“ wird von der taz Panter Stiftung gefördert.

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