: Über einen schwankenden Weg
JUGENDTHEATERTREFFEN Mit Theodor Storms „Schimmelreiter“ begann das Kinder- und Jugendtheater Festival „Augenblick mal!“
Unsicher steht der junge Mann auf der Hängebrücke, sein Blick ist gehetzt, er macht einen Schritt vor und einen zurück. Die Brücke im Raum zwischen den Zuschauerreihen schwankt, er tritt zurück auf den festen Grund. Damit ist es entschieden: Hauke Haien wird seine Herzensdame Elke nicht zum Tanz auffordern. Die Hängebrücke ist in der Dramatisierung von Theodor Storms Novelle „Der Schimmelreiter“ nicht nur ein Blickfang, sondern ihr Betreten gleichzeitig ein eindeutiger Ausdruck emotionaler Unsicherheit der jeweiligen Figur.
Mit dem „Schimmelreiter“ in der Inszenierung von Beat Fäh wurde das 10. Kinder- und Jugendtheatertreffen „Augenblick mal!“ eröffnet, mit einem Gastspiel im HAU. Fäh setzt Trompeten zur musikalischen Untermalung und als akustisches Signal für Zeitsprünge und Szenenwechsel ein, die auch atmosphärische Geräusche wie Wind, Wetter und Pferdegewieher erzeugen. Um der wortgewaltigen Novelle Herr zu werden, verdichtet er geschickt: Die fünf Darsteller fungieren gleichzeitig als allwissende Erzähler und Figuren der Handlung. Die entscheidenden Lebensphasen des Deichgrafen Hauke Haien als eigenbrötlerischer junger Mann, getriebener Deichbauer und gereifter Ehemann und Vater erhalten so drei unterschiedliche Gesichter und Stimmen. Das verleiht der Inszenierung, die aus der „Schauburg“ in München kommt, eine erfreuliche Dynamik.
Wie beim Theatertreffen sind auch zu „Augenblick mal!“ zehn Inszenierungen von einer Jury eingeladen worden, die noch bis 10. Mai in verschiedenen Theatern Berlins gastieren. Das Programm ist weit gespannt, sowohl in Hinsicht auf die Nationalität als auch die Auswahl der Beiträge. Der Regisseur und Theaterpädagoge Omid Niaz präsentierte mit dem Nanoaroosak Theater aus Isfahan „Schattenkinder“, die Geschichte iranischer Straßenkinder, im Theater an der Parkaue. Dabei verarbeitete er in Text und Improvisation reale Erfahrungen von fünf kindlichen Darstellern, die er in einer Recherchephase tatsächlich in den Straßen der persischen Metropole Gebetstexte und Kaugummi an Passanten verkaufen ließ, damit sie Erfahrungen für ihre Rollen sammeln konnten. Denn sie verkörpern elternlose Straßenkinder, die im Auftrag eines gewalttätigen Erwachsenen Koranverse, Blumen und Pflaster verkaufen und sich so mühsam ihre Existenz sichern. Erst die Begegnung mit einem geheimnisvollen obdachlosen Lebenskünstler, der an eine klassische Narrenfigur erinnert, ermöglicht es ihnen, sich erstmals als Kinder zu fühlen.
Mit den Mitteln der Imagination und Fantasie verwandelt Omid Niaz die trist gestaltete Bühne in einen Abenteuerspielplatz, eine rostige Tonne in ein Spielgerät und zaubert schließlich ein Lächeln in die Gesichter der verängstigten Kinder. Die Originalsprache Farsi, die lediglich mittels eingeblendeten Übertiteln ins Deutsche übertragen wird, lässt zunächst Zugangsschwierigkeiten befürchten, zumal das Grundthema ohnehin reichlich komplex für ein Publikum ab sieben Jahren erscheint. Erfreulicherweise ist dem jedoch nicht so – die offensichtliche Spielfreude der Kinder, kombiniert mit dem starken Fokus der Inszenierung auf Imagination und die positive Umdeutung des Vorhandenen erzeugen eine beachtliche Poesie und Kraft, die der thematisierten Problematik die ihr immanente Schwere zwar nicht nimmt, sie aber in eine märchenhafte Atmosphäre hüllt. Man begreift, auch wenn man nicht jedes Wort versteht.
FRAUKE SCHMICKL
■ „Augenblick mal!“, bis 10. Mai, www.augenblickmal.de