■ Über die Deformation des russischen Präsidenten: Der erste Demokrat und die Macht
Als besonders entschiedener Reformer hatte sich Jelzin einen Namen gemacht, nachdem der damalige Parteichef Gorbatschow ihn 1986 nach Moskau geholt hatte. Er bekämpfte publikumswirksam die mächtige und korrupte Parteileitung in Moskau, deren Übergänge zum kriminellen Milieu fließend waren.
Jelzin ließ von Lastwagen herab knappes Gemüse verkaufen, um die Gemüsemafia zu schwächen. In praktischer Hinsicht war das nicht nur unbürokratisch, sondern auch ineffizent; als symbolischer Akt aber war es wirksam. Schließlich verfeindete er sich mit der KPdSU überhaupt. Im Kampf gegen sie errang er seine weiteren politischen Erfolge. Massenhaft unterstützt wurde er dabei von denen, die den totalitären Strukturen und Überresten ein Ende bereiten wollten.
Der Putsch von 1991 ermöglichte es Jelzin, sich als demokratischer Volksheld zu profilieren. Er stieg mit leeren Händen auf die Panzer und schien damit die Macht der Gewaltfreiheit zu demonstrieren. Nun konnte er aus eigener Machtvollkommenheit in Rußland die Kommunistische Partei verbieten. Die baltischen Staaten, Moldawien und die kaukasischen Republiken hatten ihre Unabhängigkeit erklärt. Jelzin setzte die Auflösung der UdSSR mit der Drohung durch, daß sonst eben Rußland austreten werde. Damit war Jelzin seinen verhaßten Konkurrenten Gorbatschow los, er selbst erster im Staate.
Trotz aller Verehrung gab es aber auch in Rußland einige nüchternere Liberale, die erkannten, daß Jelzin keiner der ihren war. Sie wußten, daß Jelzin von ihnen abhängig war; und sie brauchten ihn als Garanten der Reform von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Gegen die Bedrohung durch die alte sowjetische Welt war Jelzin das Bollwerk.
Die beunruhigenden Faktoren wurden zunächst kaum wahrgenommen. So befestigte Jelzin den gesellschaftlichen Elan, der ihn an die Macht getragen hatte, nicht in einer Partei. Er beanspruchte, Repräsentant des ganzen Volkes und nicht der einer Partei zu sein. Demokratisch war diese Vorstellung insofern, als Jelzin von seinen Anhängern und im Ausland für einige Zeit noch als der oberste regierende Demokrat wahrgenommen wurde.
Als oberster Demokrat sah er sich stets gegen jene im Recht, die keine Demokraten sein konnten, weil sie gegen ihn waren. Da diese Gegner erkennbar Altkommunisten, Nationalisten, Imperialisten, Trunkenbolde, Gewalttäter und so weiter waren, schien sein Anspruch überzeugend. Das Parlament von 1993 war relativ demokratisch gewählt worden. Es spiegelte die Meinungsverhältnisse in der Bevölkerung ungefähr wider, und die waren weniger liberal, marktwirtschaftlich und demokratisch als wünschenswert. Die Annahme, ein neu gewähltes Parlament sähe prinzipiell anders aus, hegten im In- und Ausland aber jene, die Jelzins Anspruch, das ganze Volk zu repräsentieren, wörtlich nahmen. Als oberster Demokrat stand Jelzin zugleich über dem Gesetz. Immer wieder machte er seinen Gegnern klar, daß für ihn Gesetze nur dann legitim, also gültig waren, wenn sie ihm selbst, also dem Volke, nützten. Die alte, überkommene Verfassung hatte er sich zwar durch viele Veränderungen und Zusätze auf den Leib schneidern lassen. Als sie ihm dann selbst in dieser Gestalt lästig wurde, erkannte er, daß sie antidemokratischen Ursprungs, also illegitim, war und ließ sich eine neue machen. Zuvor mußte er allerdings das Parlament ausräuchern. Noch in der Zerstörung aller schwachen Anfänge rechtsstaatlicher Selbstbindungen fand Jelzin Unterstützung bei vielen liberalen Demokraten. Hintergrund ihrer Unterstützung war allerdings immer weniger die unbedingte Begeisterung als vielmehr die Furcht vor den Gegnern der Demokratie.
Tatsächlich erschien das russische Parlament im Herbst 1993 wie eine Ansammlung gefährlicher Desperados. Dieser Anschein war aber selbst Folge einer Polarisierung, die Jelzin vorangetrieben hatte. Nur aus dieser Polarisierung ist erklärlich, daß der liberale Teil der Öffentlichkeit nicht alarmiert war, als ein Präsident ein frei gewähltes Parlament mit Panzern beschießen ließ.
Das nach dem Panzerherbst von 1993 neu institutionalisierte und gewählte Parlament sah in seiner Zusammensetzung dann ähnlich aus wie das alte. Zumindest die Wahlen waren also frei. Auch die letzten Wahlen haben ja keine prinzipiellen Veränderungen gebracht: Die Kommunisten Sjuganows gehören dem „patriotischen“ Lager an, dem auch zuvor die Mehrheit angehört hatte.
Die Delegitimierung des formellen Rechts und die Konzentration der Macht beim Präsidenten wurde endlich durch eine weitere politische Wende ergänzt. Ab 1993 war Jelzin auf die Unterstützung der Regionen und der nationalen Territorien nicht mehr angewiesen. Jetzt konnte er auch daran denken, das rebellische Tschetschenien wieder an die Kandare zu nehmen. Die abbrechende Unterstützung der Liberalen hatte Jelzin längst durch eine Stärkung der Kamarilla seines Präsidentenbunkers kompensiert.
Bei aller Machtkonzentration bewahrte Jelzins Konstruktion allerdings Besonderheiten, die auf ihn zurückgehen. Schon früh war entdeckt worden, daß er in friedlichen Zeiten einer merkwürdigen Lähmung verfiel und erst in Konflikten zur Hochform auflief. Konflikte aber bewältigte er stets als Draufgänger – ob er Gemüse vom Lastwagen verkaufen ließ, gegen Putschisten auf Panzer kletterte oder die gleichen Panzer das Parlament beschießen ließ. Was erst im Laufe der Zeit offenbar wurde, war, daß das letzte Motiv seines Handelns er selbst war. Daß er dafür zu allem fähig war, blieb so lange verdeckt, wie ihm Demokratie und Menschenrechte nützlich schienen.
Jelzin hat einen Instinkt für die Macht. Aber er ist, wie viele, die sich sehr viel Macht geben ließen und ihre Konkurrenten erledigten, seinen Beratern ausgeliefert. Die sind ihm zwar ergeben, weil sie ohne ihn nichts mehr wären, aber sie sind nicht fähiger als er. Der Krieg in Tschetschenien zeigt nicht nur das Draufgängertum Jelzins und seine moralische Skrupellosigkeit, sondern auch die Unfähigkeit seiner Helfer.
Auch aus diesem Grunde hat das tschetschenische Abenteuer Jelzin bislang wenig genutzt. Seine Chancen auf eine Wiederwahl im Juni schwinden gegenwärtig. Das nationalistische, nostalgisch-sowjetische Milieu, wen immer es zum Kandidaten kürt, könnte den nächsten Präsidenten stellen. Wie groß muß die Versuchung sein, die Präsidentschaftswahlen rechtzeitig zu verhindern!
Immerhin hätte der künftige Präsident die künftige Machtfülle des jetzigen. Und er könnte undemokratisch sein. Erhard Stölting
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