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Archiv-Artikel

ÜBER EIN GANZ BESONDERES FEST DER LIEBE UND DIE SEHR PERSÖNLICHEN FOLGEN FÜR DIE KOLUMNISTIN Weihnachten ohne Tannenbaum

VON LEA STREISAND

Solange ich denken konnte, hatten wir Weihnachten eine Tanne. Die ging bis fast zur Wohnzimmerdecke und musste mit Kugeln und Lametta präpariert werden. Es gibt nichts Langweiligeres, als Lametta an einen zwei Meter großen Baum zu hängen. Man hat das Gefühl, man wird nie fertig.

„Schön“, sagte meine Mutter, wenn wir fertig waren, und ich sagte auch „Schön!“ und dann war es vorbei mit der Besinnlichkeit, weil wir noch Sülze essen, Klamotten wechseln, in die Kirche gehen und Oma von der S-Bahn abholen mussten, bevor wir uns das erste Mal wieder setzen durften. Außerdem musste Papa die Ente machen, und die Klöße und Pfefferkuchen mussten wir auch noch essen.

Sowieso wurde Heiligabend bei uns die meiste Zeit gegessen. Als meine Freundin Frieda mir erzählte, bei ihr zuhause gebe es Heiligabend nur Kartoffelsalat und Würstchen, wären mir vor Mitleid fast die Tränen gekommen. Ich dachte, dass es bei Frieda dann auch keine Bescherung geben würde, weil die Bescherung bei uns zu Hause nämlich immer genau so lang dauerte, wie die Ente im Ofen war.

Für meinen Vater war das ganze Tannenbaumschmücken, Kirchegehen und Geschenkeschenken sowieso nur eine Beschäftigung, um die Zeit zwischen den Mahlzeiten zu überbrücken.

„Jetzt ist Weihnachten!“, sagte Papa, wenn er der Ente die Flügel brach, und Oma sagte: „Kinder, ihr wisst doch, dass ich abends nichts esse!“ Dann nahm sie den ersten Bissen und sagte: „War wohl ’ne alte Dame, wa?“, und Papa sagte nichts, sondern guckte nur. Mama sagte: „Da bleibt ja noch was übrig zum Einfrieren!“ – und Papa guckte noch mehr. Dann verspeiste er die Ente, öffnete den zweiten Knopf seiner Hose, rutschte auf dem Sessel so weit nach unten, dass er fast auf dem Rücken lag, und sagte: „Jetzt ist mir so richtig schön schlecht!“ Und dann war Weihnachten vorbei.

So war das immer, solange ich denken konnte. Es begab sich aber zu der Zeit, als die Mauer noch stand, als ich noch nicht denken konnte, da gab es ein Weihnachten, da hatten wir keinen Weihnachtsbaum. „Ich weiß bis heute nicht, warum ich mich damals nicht von deinem Vater getrennt hab“, hat meine Mutter immer gesagt. Sie hat sich später getrennt, aber aus anderen Gründen.

Papa sollte den Weihnachtsbaum nämlich besorgen, wie jedes Jahr. „Hast du schon den Baum besorgt“, fragte Mama jeden Tag, und Papa sagte: „Die kriegen nochmal neue. In der letzten Woche vor Weihnachten kriegen die nochmal neue.“

Und plötzlich war der 23. Dezember. Und sie hatten nicht nochmal neue gekriegt. Sie hatten nicht mal mehr alte übrig. In der ganzen Stadt. An allen Verkaufsstellen. Nicht mal ’ne mickrige Krüppelkiefer hatte Papa noch abgekriegt.

Und nun stand er da am Bahnhof Ostkreuz. Der Wind pfiff ihm in den Parka und er hatte keinen Weihnachtsbaum. Papa liebte meine Mama. Aber nun hatte er doch Angst, nach Hause zu kommen. Er hatte schon eine halbe Schachtel Karo aufgeraucht.

Und dann sah er sie. Wie vom Himmel geschmissen stand sie da: eine mickrige Krücke, zehn Fäden Lametta, zwanzig Nadeln, drei traurige Lichter an den Zweigen. Aber ein Tannenbaum. Auf dem verlassenen Bahnhof Ostkreuz. Lieblos weggeworfen in einem überfüllten Mülleimer.

Papa guckt sich um und schlendert zum Mülleimer. Beiläufig. Er wirft die Zigarette weg, geht hin und will das Bäumchen aus seiner unheiligen Unterkunft befreien, da hallt aus dem Lautsprecher eine Stimme über den Bahnsteig: „Hey, Sie! Lassen Sie den Baum stehen! Der ist Volkseigentum!“

Es wurde ein sehr bescheidenes Weihnachten. Mit Tannenzweigen in einem großen Krug, an die Mama zwei, drei Kugeln und zehn Fäden Lametta hängte, und mit Kartoffelsalat und Würstchen. Mama seufzte, Papa seufzte. Dann verspeiste er den Kartoffelsalat, küsste seine Frau und sagte: „Frau, ich werde das wieder gutmachen. Von nun an sollst du jedes Jahr einen Baum haben zu Weihnachten. Und Sülze soll es geben. Und Pfefferkuchen. Und Ente.“ Da freute sich Mama und küsste ihn. Und er küsste sie. Und dann gingen sie ins Bett und hatten sich lieb.

Und als wieder Weihnachten war, hatten sie nicht nur einen Baum, eine Sülze, eine Ente und einen Haufen Pfefferkuchen in der Wohnung, sondern auch noch ein Baby.