US-Forscher Thurman legt Plan vor: "Der Tibet-Konflikt ist lösbar"
Robert Thurman, US-Tibetologe und Vater der Schauspielerin Uma Thurman, fordert von China einen Kurwechsel in der Tibet-Politik - und legt einen Plan zur Beilegung des Konflikts vor.
taz.de: Sie sind der Mann, der schreibt, wie China sein Problem mit Tibet lösen kann. Wie löst man denn eben mal so einen der dramatischen Konflikte der Gegenwart?
Robert Thurman, geboren 1941, ist Professor für Indo-Tibetische Buddhistische Studien an der Columbia University und Buddhist.
Robert Thurman: Zunächst, diese Ideen sind nicht ursprünglich von mir, sondern ich habe sie aus zahlreichen Reden des Dalai Lama extrahiert, die er über die Jahre gegeben hat. Mein Beitrag ist es, die einzelnen Elemente zu einem konkreten Plan zusammengefasst und abgerundet zu haben. Der Dalai Lama selbst hat das nie getan, ich bin auch nicht damit beauftragt worden, aber ich habe ihm mein Manuskript gezeigt und er mochte das. Mir geht es auf den Geist, dass alle immer sagen, das Problem ist nicht lösbar.
Punkt eins ist die Forderung, das in allen Verhandlungen mit der chinesischen Regierung über Tibet stets alle Tibeter mit eingeschlossen werden müssen. Dass allein hat ja die Sprengkraft einer Atombombe.
Die Chinesen waren in den 1950er Jahren clever und haben das ursprüngliche tibetische Gebiet zerstückelt in so genannte Autonome tibetische Präfekturen, die sie an existierende chinesische Provinzen anschlossen. Heute leben zwei Drittel aller Tibeter in diesen ausgegliederten Provinzen. Nur ein Drittel lebt in dem, was heute die Autonome Tibetische Region ist und was Tibet genannt wird. Der Dalai Lama würde zunächst dafür sorgen wollen, dass sich das Gebiet Tibets wieder bis zu den geographischen Höhenlinien des Hochplateaus erstreckt.
Und China wäre bereit, sein Staatsgebiet schnell mal neu zu strukturieren?
Naja, so schwer ist das nicht. Die Gebiete heißen ja immer noch Autonome Tibetische Präfekturen. Da wäre kein großes Umdenken erforderlich. Die Präfekten würden ihre Berichte dann lediglich nach Lhasa schicken, statt in die Verwaltungssitze der Provinzen, zu denen sie jetzt administrativ gehören. Das würde der chinesischen Regierung natürlich nicht gefallen, aber der Dalai Lama kann ja nicht nur für ein Drittel seines Volkes sprechen. Das Ergebnis wäre dann keineswegs eine stabile Situation.
Zweiter Schritt: Die Entmilitarisierung Tibets und der Abzug der chinesischen Volksbefreiungsarmee.
Ja, dazu gehört auch ein Ende der Subventionierung der Kolonialisten dort oben auf dem tibetischen Plateau. Die fühlen sich da in der Höhenluft ohnehin nicht wohl und bleiben nur wenige Jahre in Tibet, um viel Geld durch ihre subventionierten Jobs zu verdienen. Bei Tageslicht betrachtet ist das kein realer Verlust an Siedlungsfläche für die Han-Chinesen. Denn ihre Kolonisierung verschlingt Unsummen und in sechs Kilometer Höhe können nicht einmal die notwendigen Lebensmittel dafür angebaut oder erzeugt werden.
Aus der Entmilitarisierung folgt dann wohl auch eine autonome Regierung für Tibet?
Und zwar nach dem Vorbild, wie China mit Hongkong umgeht. Ein Land, zwei Systeme. Die Tibeter hätten dann ihre eigenen Wahlen, Gesetze und Gesetzgebung. Sie würden auch die Polizei und die Richter bestellen. Das alles natürlich unter der souveränen Ordnung der Volksrepublik, so, wie es für die Hongkonger auch gilt.
In Hongkong ist die Selbstständigkeit der Verwaltung und der Politik doch nur Fassade.
Ich spreche von dem Modell, nicht von der Hongkonger Realität. In Tibet müsste die Autonomie in der Tat stärker gesichert werden. Die Tatsache, dass Tibet jetzt von Peking aus regiert wird, hat zu vielen katastrophalen Fehlentscheidungen geführt, die wiederrum Hungersnöte und die Zerstörung weiter Teile der Natur auf dem Hochplateau zur Folge haben.
Die Urangst der chinesischen Zentralregierung, dass wissen Sie als Tibetforscher doch besonders, ist, dass das Reich der Mitte auseinander brechen könnte, sprich, dass Mongolen und Uiguren und andere Ethnien, durch Tibets Beispiel ermuntert, plötzlich alle die Freiheit verlangen.
Tibet würde sich ja nicht selbstständig machen. Der Dalai Lama hat immer wieder versprochen, dass sich Tibet, sobald sich die chinesischen Besatzer zurückgezogen haben, in einem Referendum zum Teil Chinas erklärt.
Das ist aber ein vages Versprechen. Was ist, wenn das Plebiszit anders ausgeht, als es der Dalai Lama verspricht?
Dalai Lama ist viel mehr als Barack Obama. Jeder der weiß, welchen Einfluss der Dalai Lama auf sein Volk hat, wird das nicht in Frage stellen. Der Gottkönig würde dafür werben und sein Volk würde ihm folgen. Erst dieses Plebizit würde China die langfristige Legitimität verleihen, die es in Tibet bis heute gar nicht hat. Ihre historische Argumentation, warum Tibet ein Teil Chinas sei, ist nämlich nicht besonders überzeugend. Wenn die Mongolen und die Uighuren, die auch unglücklich sind, sehen, dass China auch ein moderner Partner für das 21. Jahrhundert sein kann, werden sie eher Vertrauen in Bejing entwickeln.
Bevor wir zur Allchinesischen Föderation kommen – muss nicht erst einmal ein Termin ermöglicht werden, bei dem sich der Dalai Lama und die Pekinger Regierung überhaupt erst einmal treffen? Sogar von diesem eignetlich bescheidenen Punkt sind alle noch meilenweit entfernt.
Deshalb lautet der vierte Schritt, dass die chinesische Regierung mit ihrer Kulturrevolutions-Propaganda gegen den Dalai Lama aufhört und sich mit ihm anfreundet. So, dass auch die Bevölkerung ablässt von ihren schlechten Gefühlen gegenüber dem Dalai Lama und er sich erstmals frei in China bewegen und die Patronage Beijings in Anspruch nehmen kann. Die chinesische Regierung würde dafür international Anerkennung erhalten und gleichzeitig eine Restauration des chinesischen und tibetischen Buddhismus einleiten, was ich für dringend notwendig halte. Das würde den Chinesen helfen, nicht gleich auszurasten und verrückt zu spielen, wenn sie nicht innerhalb von fünf Minuten reich werden.
Sie als gut dotierter Professor haben ja leicht Reden. Ok, und was passiert, wenn dann alle nett zu einander sind? Tibet ist arm und kann sich selbst wirtschaftlich kaum erhalten.
Der fünfte Schritt lautet, dass der Dalai Lama und die chinesische Regierung gemeinsam das tibetische Plateau zum Naturschutzgebiet erklären.
Wie bitte, einzäunen?
Das würde China mit einem Schlag zum König der Umweltpolitik machen, und den Druck auf seine natürlichen Ressourcen lindern. Denn Sie dürfen nicht vergessen - Tibet ist das Quellgebiet der wichtigsten Flüsse Asiens. In der Vergangenheit hat die falsche Politik Pekings auf dem Plateau für Desertifizierung und Wassermangel gesorgt, mit weitreichendne Folgen für ganz Südostasien. Man kann daraus nur folgern, was gut ist für Tibet, ist auch gut für China.
Sie verlangen damit von der chinesischen Regierung nichts weniger als einen Paradigmenwechsel. Bislang ging es Peking ja nicht um die Frage, was ist gut für Tibet - sondern was ist in Chinas nationalem Interesse.
Der Dalai Lama nennt diesen Paradigmenwechsel "aufgeklärtes Eigeninteresse". China weiß, dass Tibet für seine eigene Umwelt sehr wichtig ist. Dort entspringen Chinas Flüsse, dort entstehen mit der Westwinddrift die chinesischen Wetterbedingungen, die wiederum Dürren oder Flut in China auslösen können. Chinas Kolonisierung zerstört die delikate Balance in einer Weltregion, die nicht für eine urbane Kultur besiedelbar ist. Das heißt auch, Chinas Kolonisierungsversuche werden niemals nachhaltige Erfolge zeitigen. In dem Momant, wo aus Bejing keine Unsummen an Geld mehr fließen, wendet sich in Tibet alles wieder gegen die Besiedler.
Wer müsste denn Ihrer Meinung nach welchen ersten Schritt unternehmen?
Die chinesische Regierung müsste mit der kulturrevolutionären nationalistischen Propaganda aufhören. Dann könnte der Prozess wieder aufgenommen werden, der vor drei Jahren zum Stillstand kam. Das Politbüro könnte dann zu der Erkenntnis kommen, dass man im 21. Jahrhundert unmöglich noch Imperialismus und Kolonialismus praktizieren kann. Die Führung hätte, wenn sie sich mit dem Dalai Lama im kleinen Kreis treffen würde, die Chance zu erkennen, dass sie in ihm einen großen Gewinn haben. Denn er würde ihnen helfen, diese Schritte zu gehen.
Professor Thurman, kann es sein, dass man Sie schon mal des, na, ich nenne es mal ausgeprägten Idealismus bezichtigt hat?
Natürlich, das ist mir völlig recht. Wissen Sie, diese Supermachtphantasien, wie sie auch die USA träumt, die funktionieren im 21 Jahrhundert nicht mehr. Wer hätte vor 100 Jahren gedacht, dass es mal die Europäische Union geben wird? Oder wer hätte 1988 gedacht, dass sich die Sowjetunion aus Osteuropa zurückzieht? Intellektuell bin ich völlig davon überzeugt, dass die erwähnten fünf Schritte eines nicht allzu fernen Tages gemacht werden müssen. Emotional bin ich natürlich gestrickt wie jeder andere Mensch auch. Ich habe auch manchmal meine Zweifel. Aber es gibt sehr gute rationale Gründe zu argumentieren, dass Krieg und Unterdrückung auf lange Sicht keine Früchte tragen.
Interview: Adrienne Woltersdorf
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