US-Doku „Virgin Tales“: Eine schrecklich nette Familie
Ein Jahr unter Evangelikalen in Colorado Springs: „Virgin Tales“ zeigt, was es mit Keuschheitsgelübden und Reinheitsbällen auf sich hat.
Einige werden es schon einmal selbst erlebt haben: Man lernt nette Menschen kennen, die ungeheuer gastfreundlich sind, ungeheuer nette Kinder und Freunde haben, auf alles eine Antwort wissen und schließlich so nett sind, dass man es kaum mehr aushält und nach Fluchtwegen Ausschau hält. So ungefähr ergeht es auch dem Zuschauer von „Virgin Tales“.
Die Schweizer Dokumentaristin Mirjam von Arx stellt in ihrem Film eine wirklich schrecklich nette Familie vor: Randy und Lisa Wilson leben in Colorado Springs und haben zusammen sieben Kinder im Alter zwischen neun und 27 Jahren. Vater Randy hat das Aussehen eines Hollywood-Nebendarstellers, weshalb es wenig stört, wenn man zu Beginn sieht, wie seine Kinder brav in einer Schlange vor ihm knien und auf seinen Segen warten. Wenn Randy dann seine Hand über eine seiner Töchter hält und seinen Segensspruch mit den Worten anfängt: „Du bist schön“, und einen Schwall an bestärkenden Komplimenten folgen lässt, ist man fast gerührt. Randy kann kein schlechter Vater sein.
Die Wilsons gehören zu den sogenannten Evangelikalen, den christlichen Fundamentalisten in den USA, die nicht nur hierzulande das Ziel von Hohn und Spott sind, weil sie der Wissenschaft von der Evolution ihren „Kreationismus“ entgegensetzen oder gegen Homo-Ehe und Abtreibungsrechte kämpfen. Mirjam von Arx konzentriert sich in ihrem Film auf einen weiteren Aspekt der evangelikalen Bewegung: das Ideal von „Reinheit“ vor der Ehe. Die Wilsons nämlich haben in ihrer Gemeinde rund um diese Vorstellung eine ganze Reihe von Ritualen begründet, die von hier aus offenbar in die anderen US-Bundesstaaten ausstrahlen.
Das zentrale dieser Rituale ist der „Purity Ball“, ein Ball für „Väter und Töchter“, bei dem die Väter schwören dürfen, gut auf die Töchter aufzupassen und Letztere in weißen Prinzessinnenkleidchen das Warten auf den Mann feiern, der den Papa dann ablösen soll. Die Wilsontöchter üben dafür sogar noch eine spezielle Choreografie ein, bei der sie um ein großes Holzkreuz herumtanzen. Da wird dem Zuschauer dann doch schon etwas mulmig.
Wie wir sehen, sehen wir gar nichts
Dabei legt Mirjam von Arx in ihren dokumentarischen Blick keinerlei Verurteilung. Im Gegenteil, man kann sich gut vorstellen, dass die Wilsons selbst ganz begeistert sind von diesem Film. Die Hauptprotagonistin ist Jordyn, die drittälteste der Töchter, die mit Anfang zwanzig nun sehnsüchtig darauf wartet, endlich dem richtigen Mann zu begegnen.
Leider ereignet sich in dem Jahr, in dem von Arx die Familie filmt, in dieser Hinsicht gar nichts. So müssen die älteren Geschwister die Lücken füllen. Die tollste Geschichte hat Schwester Khrystian zu erzählen: Ihr jetziger Mann Chad sah ein Foto der Wilsons am Kühlschrank einer befreundeten Familie hängen, nahm Kontakt mit Vater Randy auf, kam auf dessen Genehmigung hin vorbei und hielt nach wenigen Tagen prompt um Khrystians Hand an.
Der Clou dieser tollen Liebesstory ist natürlich, wie sehr sich für Chad und Khrystian das Warten, soll heißen die Keuschheit, gelohnt hat. Selbst das Küssen haben sie sich für nach der Trauung aufgespart. Auf einem der im Film gezeigten „Purity Balls“ erzählt Chad, von Beruf Soldat, öffentlich seine Geschichte, und man spürt, wie der ganze Saal gefühlsmäßig mitgeht.
Man spürt aber auch, wie routiniert Chad das darstellen kann, den glücklichen Finder einer jungfräulichen Braut, die sich ihm als „würdig“ erweist. Darüber, warum man solch intime Fragen überhaupt so öffentlich verhandeln muss, macht sich in diesem Kontext niemand Gedanken.
Alles Leben kommt aus Beziehungen
Kritische Fragen gibt es im Film so gut wie keine. An einer Stelle lässt von Arx die Wilson-Eltern vor der Kamera über die Möglichkeit nachdenken, was wäre, wenn eine ihrer Töchter nun ohne zu heiraten mit einem Mann ins Bett ginge. Doch so einfach kommt man diesen Menschen nicht bei: Alles Leben käme aus Beziehungen, antwortet Randy ruhig, er würde den Kerl eben treffen wollen. Was hat von Arx erwartet? Dass sie Drohungen aussprechen?
Während man vor der Kamera immer wieder die Wilsons posieren sieht, die sich ihrer eigenen Fotogenität sehr wohl bewusst sind, wünscht man sich als Zuschauer, dass sich der Blick der Dokumentaristin weiter öffnen würde. Interessanter als das Keuschheitsgetue, dessen gesellschaftliche Relevanz der Film doch etwas zu übertreiben scheint, wären vielleicht die anderen Anliegen der Evangelikalen, wie eben der Umgang mit Homosexualität oder Abtreibung. Man würde diese schrecklich nette Familie darüber viel besser kennen lernen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?