UNTERHALTUNGSBRANCHE : Moderne Märchen
Ich hatte mich richtig in Szene gesetzt. Gebannt starrten meine beiden Kinderlein auf meine Lippen, als ich aus dem Gedächtnis einen Klassiker aus Grimms Schatzkiste zum Besten gab. Eben hatte ich durchaus dramatisch beschrieben, wie der hartherzige König die arme Müllerstochter in den Schlosskeller gesperrt und ihr befohlen hatte, den Haufen Stroh bis Sonnenaufgang komplett zu Gold zu spinnen, so ihr das Leben lieb sei.
Eindrucksvoll, mit verstellter Stimme gab ich die Verzweiflung des armen Dings wieder, wie es weinend und bar jeder Hoffnung vor dem Spinnrad hockte, als sich plötzlich, woher auch immer, ein kleines Männchen zeigt und fragt: „Heh, warum weinst du denn so bitterlich?“ Erschrocken, so erzählte ich, wandte sich das Mädchen schaudernd an den wunderlichen Zwerg: „Wer bist du?“ Nicht ohne Stolz bemerkte ich, wie meine kleinen Zuhörer zitternd vor Spannung auf ihren Matratzen kauerten. Genüsslich fuhr ich fort: „Man nennt mich Rumpelstilzchen, gab das Männlein keck zurück.“ Es war schon eine Weile her, seit ich mich eingehend mit den Märchen der Grimmbrüder beschäftigt hatte. Und weil ich mich von der momentanen Stimmung meiner lebendigen Vortragsart verzaubern ließ, wurde mir erst gegen Ende des Märchens bewusst, dass es sich auf die Handlung auswirkt, wenn sich Rumpelstilzchen namentlich vorstellt.
Meinen Kindern gefiel die Geschichte trotzdem ganz gut. Möglicherweise ist ihre Auffassungsgabe durch die Einflüsse von Umwelt, Medien und Erziehung bereits derart in Mitleidenschaft gezogen worden, dass sie sich an den ungewöhnlichen Namen, ganz wie die arme Müllerstochter in meiner Erzählvariante, später nicht erinnern sollten. Man kann über das mangelnde Konzentrationsvermögen bei der heranwachsenden Generation sagen, was man will, für die Unterhaltungsbranche ist es ein Segen. FELIX JENTSCH