ULRICH HANNEMANN, LIEBLING DER MASSEN : Nachher ist man schlauer
WIE MAN SEINE ELTERN FINDET UND EINEN NACHBARN AUCH AUF DER STRASSE ERKENNT
Freundlich grüßend läuft im Park ein junger Mann vorüber. Zögernd grüße ich zurück. Kenn ich den? Nach langem Grübeln fällt mir ein: Das ist mein Nachbar aus demselben Stockwerk. Ach, ich werde alt.
Überhaupt erkenne ich immer weniger Menschen wieder. Mit fortschreitender Lebensdauer kommen immer mehr dazu, die man sich merken muss. Manchmal sagt auf der Straße einer „Hallo“, und ich antworte sicherheitshalber ebenfalls „Hallo“, ohne zu wissen, wer das war. „Vielleicht ein Lesebühnenzuhörer?“ Doch es könnte genauso gut, sagen wir, mein Bruder sein. Ach nein, der wohnt in Hamburg. Und hier ist, Moment, ah da hinten der Fernsehturm: Hier ist Berlin. Also kann es nicht mein Bruder sein, so einfach ist das.
Der semiotische Nachbar
Längst habe ich mir angewöhnt, mich unter Zuhilfenahme situativer und semiotischer Kontexte durchs Leben zu lavieren. Ein Zuhörer abends bei der Lesebühne: kein Problem. Ein Zuhörer irgendwo auf der Straße: keine Chance. Ein Nachbar vor seiner Wohnungstür: kein Problem. Ein Nachbar im Park: keine Chance. Die halten mich bestimmt alle für arrogant, aber zur Identifikation von Personen benötige ich nun mal handfeste Indizien. So wird mein Nachbar von mir nur als Nachbar erkannt, wenn er sich in seinem natürlichen Umfeld, der Nachbarschaft, bewegt. Am besten verhält er sich auch noch nachbarspezifisch, indem er sich Salz leiht, mir die Zeitung klaut oder Müll die Treppe runterbringt. Sofort springt eine Art Rasterprogramm an, das Faktoren wie „Haus“, „Tür gegenüber“ und „Müll“ analysiert, siebt und ordnet, bis mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit feststeht: Nachbar. Wirklich wiedererkannt habe ich ihn dann zwar auch nicht, aber das weiß er ja nicht.
Ohne solche Krücken geht fast gar nichts mehr. Will ich einen Hund von einer Katze unterscheiden, renne ich dem Tier laut brüllend hinterher. Flüchtet es auf einen Baum, ist es eine Katze, flüchte ich auf einen Baum, ist es ein Hund. Hat der Baum eine Treppe, ist er ein Haus, ist das Haus oben offen, ist es ein doppelstöckiger Sightseeingbus, bewegt sich der Bus auch nach mehreren Tagen nicht, ist es wohl doch keiner, oder es ist Winter, aber wo ist der Schnee, welche Farbe hatte der noch mal? Eselsbrücke Anfangsbuchstabe: Schnee, Schwarz, Schnerbst ? oder, nee, Wand, Weiß, Winter – ja, das war’s.
Nicht selten klemmt die Kopfschublade. So folgen dem wohl zu grobmaschigen ersten Hilfskriterium „Lange Haare – Frau, kurze Haare – Mann“ bei näherem Kennenlernen oftmals widersprüchliche Zusatzinformationen. Mit Rockern ergab sich da schon manch Aha-Erlebnis. Mit der galanten Frage „Pimmelchen oder Möschen?“ hätte sich das vermeiden lassen – nachher ist man schlauer.
Zettel unterm Teppich
Eine geradezu generalstabsmäßige Methode wende ich an, so ich meine Eltern besuche. In einer festgelegten Systematik, die ich einem Merkzettel entnehme, der an der immer gleichen Stelle unterm Teppich aufbewahrt liegt, kombiniere ich die Daten auf meiner Geburtsurkunde, in meinem Adressbuch und aus abgleichenden Anrufen bei der Polizei mit Google Earth, bahn.de und Wikipedia, bis ich weiß, wer meine Eltern sind, wo sie wohnen und wie ich dorthin komme. So weit die Vorrecherche, den Rest erledigt meist die Bahnhofsmission.
Ich habe meinen Nachbarn dann noch mal im Park gesehen und auf Anhieb erkannt. Mein Rasterprogramm hat sein Archiv offenbar um eine Verknüpfung erweitert: „Das ist der Nachbar, der in den Park geht.“ Ich bin also durchaus lernfähig.