UKRAINE: DIE ORANGENEN REVOLUTIONÄRE MÜSSEN OPPOSITION LERNEN : Demokratie braucht Alternativen
Ironie der Geschichte oder schon blanker Zynismus? Wiktor Janukowitsch ist zurück an der Macht. Der alte ukrainische Regierungschef wird auch der neue sein. Eben jener Janukowitsch war es, dem 2004 kein Mittel zu schmutzig war, um den Kampf um das Präsidentenamt für sich zu entscheiden. Der eiskalt den „ukrainischen“ Westen und den „russischen“ Osten des Landes gegeneinander ausspielte und versuchte, die zweifellos aufgebauschten Spannungen für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Und der sich von Russlands Präsident Wladimir Putin zuerst im Wahlkampf unterstützen und dann zu seinem gefälschten Sieg beglückwünschen ließ.
Etwas voreilig, wie sich bald herausstellte. Denn hunderttausende Ukrainer quittierten diese offensichtliche Verletzung ihrer demokratischen Rechte mit wochenlangen Massenprotesten. Am Ende der „orangenen Revolution“ standen im Dezember eine Wiederholung der Stichwahl und der Sieg des oppositionellen Wiktor Juschtschenko. Damals blickte die ganze Welt staunend und mit Bewunderung auf ein Land, das bis dahin und seitdem vom Westen allenfalls im Windschatten Russlands wahr- und nicht ernstgenommen worden war.
Jetzt ist der politisch tot geglaubte russophile Janukowitsch wiederauferstanden und hat – auch das ein Paradox – mehr Macht als je zuvor. Denn die Verfassungsänderungen, die dank der orangenen Revolution am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten sind, stärken die Vollmachten des Regierungschefs auf Kosten des Staatspräsidenten.
Wiktor Juschtschenko hatte seit den Parlamentswahlen im März nicht gerade durch politische Präsenz und Kreativität geglänzt. Was die Ukrainer in diesen vergangenen vier Monaten erleben mussten, ist mit dem Begriff „absurdes Theater“ noch wohlwollend umschrieben. Da feilschten Abgeordnete in schon peinlicher Manier um Posten, boykottierten Parlamentssitzungen und drohten mit einem Impeachment-Verfahren gegen den Präsidenten. Verhandelt wurde im Separee oder an Runden Tischen, wobei die Partner mitunter täglich wechselten. Vereinbarungen waren oft Stunden später schon nicht mehr das Papier wert, auf dem sie festgehalten worden waren.
„Heute mal Koalitionär, morgen mal Opposition“ hieß die Devise. Was Zusagen wert sind, demonstrierte Sozialistenchef Alexander Moros in eindrucksvoller Weise. Im vergangenen Monat ließ er kurzerhand die orangene Koalition aus seinen Genossen sowie den Parteien Bjut und Unsere Ukraine von Exregierungschefin Julia Timoschenko und Staatspräsident Juschtschenko platzen. Der Lohn dafür war seine Wahl zum Parlamentspräsidenten mit den Stimmen der Kommunisten und der Parteigänger von Janukowitsch. Ein Schelm, der da noch nach politischem Credo bzw. einer Verantwortung gegenüber den Wählern fragt!
So blieb, angesichts von Chaos und Dauerkrise, Staatspräsident Juschtschenko am Ende nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera. Denn die Alternative zur Ablehnung der Kandidatur von Janukowitsch zum Regierungschef wären Neuwahlen gewesen – mit besten Aussichten auf einen Fall ins Bodenlose für die Präsidentenpartei.
Für viele Ukrainer dürfte die jüngste Entscheidung ihres Präsidenten einem Horrorszenario gleichkommen. Dennoch gibt es eine Anzahl von Gründen, für die Zukunft des Landes nicht nur schwarz anstatt orange zu sehen. Janukowitschs Partei wurde bei demokratischen Parlamentswahlen stärkste Kraft. Dieses ist – genau wie die errungene Pressefreiheit – für die Ukrainer eine wichtige Erfahrung und im Vergleich zu den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken keineswegs selbstverständlich. Das Gleiche gilt für die Koalitionsverhandlungen – ein Phänomen, das beispielsweise in Russland und Weißrussland bislang unbekannt ist.
So gespenstisch die Gespräche in Kiew auch anmuteten: Sie stellten dennoch eine Schule der Demokratie dar. Der Vorstoß Juschtschenkos, mit der Partei von Janukowitsch einen so genannten Nationalen Einheitspakt über die Leitlinien ukrainischer Innen- und Außenpolitik zu unterzeichnen, nährt zudem die Hoffnung auf eine Vergewisserung und Auseinandersetzung über wirkliche Politikinhalte.
Dafür braucht es vor allem im Parlament von Kiew endlich eine echte Opposition. Der gehörte in der Ukraine bislang an, wer nicht an der Macht, sprich an den Trögen war und Zugriff auf Ressourcen hatte. Was Opposition jedoch in einer Demokratie ist, müssen die ukrainischen Politiker jetzt lernen: der eindeutig weniger attraktive Part, aber dafür unerlässlich im Sinne einer Formulierung von alternativen Politikkonzepten sowie der Kontrolle der Regierenden.
Vor allem Exregierungschefin Julia Timoschenko ist zuzutrauen, den Schalter von Obstruktion auf Opposition umzulegen und sich als lernfähig zu erweisen. Und das wäre dann, wenn auch posthum, eine weitere langfristig positive Folge der orangenen Revolution. BARBARA OERTEL