Türkischer Film „Sivas“: Ein neugieriger Rumtreiber
Der Regisseur Kaan Müjdeci erzählt in seinem Spielfilmdebüt „Sivas“ vom Eigensinn eines anatolischen Jungen. Und von Hundekämpfen.
Der kleine Aslan möchte ein Mädchen beeindrucken. Er wählt dafür nicht die allerfeinsten Worte. „Ayse, gefällt dir mein Köter?“ Wenn Ayse den Köter gut findet, dann lässt sie das zumindest nicht deutlich erkennen. Die romantische Anbahnung bleibt ohne Erfolg. Eine sanfte Berührung mit den Händen mag die verehrungswürdige Schulkollegin nicht dulden. Sie rutscht weg von Aslan, und als er sie fragt, warum sie ihn nicht ranlässt, nicht einmal für die allerunschuldigste, kindliche Form von Nähe, dann nennt sie einen unwiderlegbaren Grund: „Darum.“ Eben.
Dieses „Darum“, das zugleich willkürlich und fatalistisch ist, bildet den Refrain in Kaan Müjdecis Film „Sivas“. Das Wort selbst fällt nur noch ein einziges, zweites Mal, allerdings an entscheidender Stelle. Dazwischen aber schwebt es im Raum, als übermächtiger Eindruck einer Welt, in der die Dinge eben so sind, wie sie sind. Sie sind es, weil sie so sind, wie sie sind. Darum nämlich.
Aslan will sich damit nicht abfinden Er will sich auch konkret nicht damit abfinden, dass in der Theateraufführung von „Schneewittchen und die sieben Zwerge“, das in der Schule (auf Erlass des Landratsamts!) einstudiert wird, einen Zwerg spielen soll, während der Sohn des Dorfvorstehers der Prinz sein darf.
Die Prinzessin? Das ist natürlich Ayse. Aslan hat sich also nicht irgendein Mädchen für seine kindliche Passion ausgesucht. Er zielt hoch. Er ist, wie es scheint, der Einzige in dem Dorf Kucuknefes in einer rauen Gegend östlich von Ankara, der an den Verhältnissen rüttelt. So macht er sich auch einfach auf den Weg zum Haus des Lehrers, rührt naiv an dessen Privatsphäre, bei dem darauffolgenden Dialog steht eine riesige Satellitenschüssel zwischen ihnen. Sie steht wohl für den falschen Weg, sich mit den Verhältnissen nicht abzufinden.
Einen Schritt weiter
Aslan ist ein Romantiker nicht nur in seiner Liebe zu Ayse. Er ist jederzeit bereit, einen Schritt weiterzugehen als alle anderen. Er treibt sich herum, aber mit einer hartnäckigen Neugierde. So lässt er eines Tages, als er mit seinem Bruder Sahin zum Zeugen eines Hundeskampfes wird, den unterlegenen Hund, den alle schon für tot halten, nicht einfach liegen. Er wartet an seiner Seite, bis er ein Lebenszeichen vernimmt. Dann nimmt er ihn mit nach Hause. Er nennt ihn Sivas, wie die nächste größere Stadt.
Dieser Name hat in der Türkei einen unangenehmen Klang, er erinnert an Brandanschläge auf Alewiten im Jahr 1993. Der Mensch zeigte sich dort als des Menschen Wolf.
Kaan Müjdeci, geboren 1980 in Ankara, aber schon lange in Berlin-Kreuzberg zu Hause, macht keinerlei ausdrückliche Anstalten, seinem Film (es ist sein erster abendfüllender) einen allegorischen Sinn unterzuschieben. Er stellt sich auch so ein in dieser Geschichte von Kampfhunden, die es „mit vier, fünf Wölfen aufnehmen“ können, und die von ungerührten Erwachsenen und bald auch von Kindern aufeinander gehetzt werden.
Dass Ayse ihn ignoriert, weil er sich nicht in seine Rolle fügen will, die eines kleinen Bauernsohns nämlich, das ist zumindest eine Möglichkeit. Und Aslan lässt sich korrumpieren. Sein „Köter“, den er mit Händen und Füßen verteidigt, beginnt wieder zu kämpfen. Allerdings kämpft Sivas nur für Aslan. Bald ist das ganze Dorf involviert, zum großen Fight um die (illegale) Meisterschaft der Türkei fahren sie mit dem Vorsteher. Für Aslan könnte es der größte Tag sein, aber er wird immer stiller.
Keine Idealisierung
Wie Müdjeci diese Expedition filmt, eine Fahrt in die Finsternis, gesehen vom Rücksitz des Wagens aus, mit dem beschränkten Blickfeld eines Kinds und eines Passagiers, der einfach mitgenommen wird, das ist charakteristisch für seinen Stil. Er überlässt sich ganz der Perspektive seines Protagonisten, ohne dabei orthodoxe Point-of-View-Shots zu strapazieren. Wir sind bei Aslan, aber so ein Kind geht ja in Wahrheit nicht einfach mit den sprichwörtlichen großen Augen durch die Welt. Es wird darin hin und her geschleudert, folgt Impulsen und schrickt vor Gefahr zurück, es durchschaut nichts und alles, und dafür findet sich in „Sivas“ eine kongeniale Form zwischen Unerschrockenheit und Verstörung.
Die imposante winterliche Landschaft mit einem großen Himmel und ihren fernen Horizonten lässt die Figuren immer wieder winzig erscheinen, nicht nur der Knabe ist ausgesetzt, auch die Erwachsenen, deren Schutzbefohlener er nicht sein mag, sind es. „Sivas“ ist ein großer Film über die Natur des Menschen und über den Eigensinn, der darüber hinausführt.
Wenn jemand von Kindern erzählt, dann ist die Versuchung groß, die kleinen Helden zu idealisieren. Kaan Müdjeci ist weit davon entfernt. Aslan und sein Hund (beide Darsteller, Doğan İzci und Çakır, werden in den Credits völlig zu Recht gleichwertig genannt) sind auch durch ihre Freundschaft nicht erhaben über die Verhältnisse, für die das Kämpfen der Hunde das Sinnbild ist. Aber Aslan ist am Ende doch einen entscheidenden Schritt weiter. Warum? Darum.
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