Türkei im Halbfinale gegen Deutschland: Schon wieder ein türkisches Wunder

119. Minute, die Kroaten schießen das 1:0. Die Partie ist entschieden. Eigentlich. Doch dann gleicht Semih quasi mit dem Schlusspfiff aus. Im Elferschießen zeigen die Kroaten Nerven.

Hält die Türken in der 122. Minute im Spiel: Semih Senturk. Bild: ap

WIEN taz Von den oberen Rängen des Wiener Ernst-Happel-Stadions sahen die zwei Reihen der Ordner mit ihren neongelben Westen aus wie klobige Perlenketten. Die Sicherheitsmaßnahmen waren besonders hoch vor dem zweiten Viertelfinale der Europameisterschaft zwischen Kroatien und der Türkei, einer Partie, die in Österreich zu einem großen Duell stilisiert worden war: Zwischen Heißblut und Leidenschaft. Richtig aufpassen mussten sie aber erst nach mehr als zwei Stunden. Denn nur das Ende der Begegnung trug dramatische Züge.

Recber Rüstü, das 35 Jahre alte Torwartidol der Türkei, wurde zum Mann des Abends, sein 117. Länderspiel wird er nie vergessen. Zuerst unterläuft ihm in der Verlängerung ein grober Fehler. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen läuft er weit nach rechts aus seinem Kasten - und verliert den Ball doch gegen Luka Modric. Der flankt gedankenschnell vors Tor, wo Ivan Klasnic lauert und das 1:0 schießt. Und das in der 119. Minute, die Partie ist entschieden. Eigentlich.

Rüstü muss seine Spieler förmlich nach vorne jagen, denn die türkischen Spieler sind geschockt von Klasnics Tor. Drei Minuten später schlägt der Keeper einen Ball weit nach vorn, der im Strafraum der Kroaten eine gewisse Konfusion auslöst. Semih Senturk antizipiert die Situation am schnellsten und schießt unhaltbar ins kroatische Tor. Ausgleich. Elfmeterschießen.

Unglaublich, wieder ein türkisches Wunder.

Ergebnis: 1:3 i.E. (1:1,0:0,0:0)

Kroatien: Pletikosa - Corluka, Robert Kovac, Simunic, Pranjic - Srna, Modric, Niko Kovac, Rakitic - Kranjcar (65. Petric), Olic (97. Klasnic)

Türkei: Rüstü - Sabri, Gökhan, Emre Asik, Hakan Balta - Mehmet Topal (76. Semih) - Kazim (61. Ugor), Hamit Altintop, Tuncay, Arda - Nihat (117. Karadeniz)

Schiedsrichter: Rosetti (Italien)

Zuschauer: 51.428 (ausverkauft)

Tore: 1:0 Klasnic (119.), 1:1 Semih (120.+2)

Elfmeterschießen: Modric verschossen, 0:1 Arda, 1:1 Srna, 1:2 Semih, Rakitic verschossen, 1:3 Hamit Altintop, Petric gehalten

Gelbe Karten: - / Emre Asik, Ugor, Arda, Tuncay

Beste Spieler: Modric, Niko Kovac / Hamit Altintop, Tuncay

Im folgenden Elfmeterschießen verschießt ausgerechnet Kroatiens überragender Spielmacher Luka Modric den ersten Elfer. Auch der Schalker Ivan Rakitic schießt daneben. Für die Türken treffen Arda, Semih und Hamit Altintop. Den entscheidenden Schuss von Mladen Petric (Borussia Dortmund) hält Rüstü schließlich - die Entscheidung. So gewinnen die Türken im Elfmeterschießen mit 3:1. Halbfinale. Tausende Türken im Stadion jubelten. Vergessen war plötzlich ein Spiel, das ohne Fantasie und Inspiration auskommen musste - vor allem auf Seiten der Türken.

Die Kroaten konnten ihr Pech kaum fassen: "Unglaublich, das kann nur im Fußball passieren", sagte Trainer Slaven Bilic. "Das werde ich niemals in meinem Leben vergessen, das wird jeder von uns immer mit sich tragen." Sie hatten aber auch selbst schuld: Zu wenig hatte Bilic riskiert, um seine technisch überlegene Mannschaft zum Sieg zu führen.

Euphorisch dagegen die Türken: "Das ist einmalig in der Geschichte, was uns heute passiert ist. Unser Volk kann sich freuen", sagte der türkische Nationaltrainer Fatih Terim. "Was wir in den letzten drei Spielen geleistet haben und welche Moral wir gezeigt haben, ist unglaublich", sagte Mittelfeldmann Hamit Altintop. "Die Mannschaft ist zwar noch nicht reif, aber auf einem guten Weg - mit ihrer Euphorie, ihrem Ehrgeiz und ihrer Laufbereitschaft ist für unsere Mannschaft noch einiges drin."

Terim war mit Sorgen ins Spiel gegangen. Neben dem rot-gesperrten Stammtorwart Volkan fehlte auch Spielmacher Aurelio wegen einer Geld-Sperre. Zudem vermisste er seine eingespielte Innenverteidigung, im wichtigsten Spiel seit dem WM-Halbfinale vor sechs Jahren standen der Türkei bloß fünfzehn Feldspieler zur Verfügung. Die Siege gegen die Schweiz (2:1) und Tschechien (3:2) hatten ihre Spuren hinterlassen.

Im Halbfinale treffen die Türken am Mittwoch um 20.45 Uhr nun auf Deutschland. Für die Türkei ist es der erste Einzug in ein EM-Halbfinale überhaupt. Bei einem Turnier trafen die Türken letztmalig während der WM 1954 auf Deutschland, damals verloren sie gleich zweimal.

"Wichtig ist, dass wir uns erholen", meinte Altintop, der zum Spieler des Spiels gekürt wurde. Terim ging einen Schritt weiter: "Das Halbfinale wird ein Spiel der Giganten." Doch nun hat sich auch noch Torjäger Nihat verletzt - und diesmal sind drei türkische Kicker wegen der zweiten Gelben Karte gesperrt: Tuncay, Arda und Emre Asik. Am Mittwoch wird wieder ein Wunder nötig sein.

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