■ Tschernobyl und die Folgen: Halbwertszeit der Ethik
Asbestfasern krebserregend? Holzschutzmittel-Bestandteile verantwortlich für den Tod leichtgläubiger Eigenheimbesitzer? Die Autoabgase Ursache für das Sterben der deutschen Wälder? Der Gebrauch der Chemikalie FCKW als Killer des Ozon-Schutzschildes? Unfug von wissenschaftlichen Außenseitern, kein ursächlicher Zusammenhang nachgewiesen, nicht ausreichend erforscht – die Argumente sind bekannt aus den letzten zwanzig Jahren, wenn Industrieunternehmen gegen ihre Verantwortung und für ihren Profit kämpften. Immer durften sie auf das Nicken von Wissenschaftlern zählen, die ungeachtet aller Beweise als bezahlte Bedenkenträger auftraten und gesetzliche Verbote verzögerten. Vielfältig sind die Belege für die Halbwertszeit der wissenschaftlichen Ethik unter den Bedingungen der Käuflichkeit.
Im Mai 1986, nach der Tschernobyl-Katastrophe, war das nicht anders. Die Bundesregierung wiegelte ab, und zugleich wurden die angeblich viel zu niedrigen Grenzwerte heraufgesetzt, weil sie zu unberechtigter Panik verleiteten. Und während kritische Wissenschaftler vor Embryo-Schäden durch die Strahlung warnten, hörte sich das in einem Hearing des Senats ganz anders an. Zwar wurde festgestellt, daß Kleinkinder in Berlin durch den Strahlenfallout „im ungünstigen Fall“ trotz Einhaltung der gesetzlichen Grenzwerte für Lebensmittel das Sechshundertfache der erlaubten Jahresstrahlungsmenge abbekommen hatten. Professor Ernst, Strahlentherapeut am Klinikum Steglitz, sprach beispielsweise beruhigend von der „biopositiven Wirkung“ kleiner Strahlung. Schwangere Frauen und besorgte Eltern durften sich freuen. Acht Jahre später sieht das Ergebnis leider doch anders aus. Wen stört's? Die unheilvolle Koalition aus politischem Zynismus und wissenschaftlicher Skrupellosigkeit kaum. Die setzt weiter auf die Vergeßlichkeit der Betrogenen. Wen wundert, daß Prof. Sperling sich bereits gegen Vorwürfe der Unwissenschaftlichkeit zu wehren hat. Gerd Nowakowski
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