Tschernobyl-Liquidator Andrejew: "Die Gierigen zahlen doppelt"
Julij Borisowitsch Andrejew hat die Spezialeinheit zur Bekämpfung der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl aufgebaut. Heute lebt der Katastrophenexperte in Wien.
WIEN taz | Als Julij Borisowitsch Andrejew (oder Iouli B. Andreev) aus den Nachrichten von dem AKW-Unfall in Fukushima erfuhr, war sein erster Gedanke: "Das hab ich befürchtet." Lange schon hatte ihn die Vorahnung verfolgt, dass sich ein neues Nukleardesaster in Japan ereignen würde. Andrejew weiß, wovon er spricht. Schließlich leitete er mehr als fünf Jahre lang die Dekontaminierungsarbeiten im und um den ukrainischen Katastrophenreaktor Tschernobyl. "Korruption und Gier", lautet seine Diagnose. Die Siedewasserreaktoren von Tepco seien Billigware: "Ein einziger Kühlkreislauf. Das ist sehr riskant - gerade im Erdbebengebiet."
Wenig im Umfeld des Atomunfallexperten deutet darauf hin, dass man einem hochdekorierten einstigen Sowjetoffizier gegenübersitzt. In einem Wiener Gemeindebau, schräg gegenüber vom historischen Karl-Marx-Hof, wo im Bürgerkrieg 1934 das Proletariat von Armee und austrofaschistischem Schutzbund unter Artilleriebeschuss genommen wurde, wohnt er mit seiner Frau in bescheidener Untermiete. Statt Porträts des Helden in ordenbehängter Uniform hängen Katzenfotos an der Wohnzimmerwand. Und ein Bild des Segelbootes, mit dem Andrejew sommers die Alte Donau durchkreuzt. Ein Bord der Bibliothek ist von der Nippes-Nilpferd-Sammlung besetzt. Im Bücherkasten steht viel russische Sachliteratur neben ein paar deutschsprachigen Bänden über Ausflugsziele.
Er habe keineswegs die Militärlaufbahn angestrebt, erzählt der 73-jährige Spezialist fast entschuldigend. Vielmehr habe man ihn nach einem Studium an der Technischen Universität Leningrad in Uniform gesteckt und zum Oberstleutnant erklärt. Die Leningrader Uni war bekannt dafür, breites Wissen zu vermitteln: "Ich verstand etwas von Maschinenbau, Physik, Chemie, Geologie." In der Armee war er zunächst zuständig für die Abwehr atomarer Gefahren von der Truppe. Es herrschte Kalter Krieg. Man musste darauf vorbereitet sein, dass der Erzfeind in Washington eines Tages einen Atomkrieg auslöste. Dazu sollte es bekanntlich nicht kommen.
Vier Jahre lang, 1966 bis 1970, war Andrejew in Afghanistan als Berater für Chemieunfälle. Wie er später erfuhr, hatte dort ein Kollege einen anonymen Brief an das Regionalbüro des KGB geschrieben, in dem er den Offizier, der sich stets weigerte, Parteimitglied zu werden, anschwärzte: "Er kann Englisch, versucht es aber zu verbergen." Tatsächlich hatte sich der Ingenieur durch das Studium technischer Texte zumindest passive Kenntnisse der englischen Sprache angeeignet.
Dass er sich in der Fremdsprache sogar verständlich machen konnte, sollte er Jahre später erfahren, als er bereits in Tschernobyl arbeitete: "Eines Nachts rief mich ein Roboterexperte aus den USA an, der die Zeitverschiebung nicht berücksichtigte. Zum Erstaunen meiner Frau, die neben mir im Bett lag, und auch zu meinem eigenen sprach ich am Telefon fließend Englisch."
Die Reaktion der Sowjets
Die Stunde des Experten schlug, als Block 4 des ukrainischen AKWs Tschernobyl außer Kontrolle geriet und das Personal hoffnungslos überfordert war. "Diese Spezialisten sind sehr gut für Routineabläufe", urteilt er: "Aber im Fall einer Katastrophe sind Leute mit kreativem Denken gefragt." Zu diesen gehört auch Andrejew selbst. Jedenfalls war der damalige Ministerpräsident Nikolai Ryschkow dieser Meinung. Er empfahl dem AKW-Direktor den Einsatz von drei Experten als Krisenmanager. Andrejew war einer davon.
Offenbar bewährte er sich derart, dass Marschall Sergej Aganow ihn bitten musste, weiterzumachen, statt gemäß den Sicherheitsvorschriften nach einem Monat die verstrahlte Gegend zu verlassen. Getreu seinem Motto von den kreativen Köpfen stellte er Hierarchien auf den Kopf und ernannte schon einmal einen Studenten der Akademie der Wissenschaften zum Chef seines Professors, weil er ihn für den fähigeren Mann hielt.
Fünfeinhalb Jahre sollte Andrejew schließlich in Pripjat, in unmittelbarer Nähe des Unglücksreaktors, bleiben. Dort baute er im Auftrag der Regierung eine Organisation auf, die sich der Prävention und Bewältigung von Atomunfällen widmen sollte: Spezatom. "Diesen Namen hat meine Frau erfunden, die ist Industriedesigner." Allerdings zeigte sich die Industrie wenig kooperationsbereit. Auf die Anfrage, welche Notfälle denn denkbar wären, bekam man keine Antwort. Für "beyond design accidents" solle man Szenarien entwerfen, sagt Andrejew auf Englisch. Also für Unfälle, die nicht eingeplant, nicht vorhersehbar sind. Es widersprach dem Selbstverständnis der Behörden von technischer Perfektion, dass sowjetische Anlagen außer Kontrolle geraten könnten.
So war man gezwungen, sich auf abstrakte Notfälle vorzubereiten. Andrejew wurde zum obersten Chef einer Behörde, die immerhin 2.000 Menschen beschäftigte. Die wichtigsten Grundsätze, die dort erarbeitet wurden, können auf alle Notfälle angewandt werden. Es klingt ebenso einleuchtend wie einfach, was da empfohlen wird: Erstens: Erkundung des Terrains und Rettung des Personals; zweitens: Räumung der Zufahrtstraßen und Eindämmung der radioaktiven Strahlung.
Die Fehler der Japaner
In Fukushima seien diese primitiven Regeln nicht eingehalten worden. Zwei durch Erdbeben und Tsunami verletzte Arbeiter seien verblutet, weil sie niemand geborgen hat. "Das wäre nicht schwierig gewesen, denn zu dem Zeitpunkt gab es noch kaum Strahlung." Und statt dann den Schutt beiseitezuräumen und eine provisorische Wasserleitung zu bauen, habe man mit Meerwasser zu kühlen versucht.
Andrejew wurde nicht gefragt. Er sitzt seit bald 20 Jahren in Wien. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging er zunächst zurück nach Moskau. Die Ukraine konnte und wollte einen so großen und teuren Apparat wie sein Spezatom nicht erhalten. Die russischen Experten gingen also nach Hause. Kurz darauf erreichte den Spezialisten ein Ruf der Akademie der Wissenschaften in Wien: "Das war für zwei Monate. Dann holte mich das Risikoforschungsinstitut der Universität Wien."
So blieb das Ehepaar Andrejew in Wien: "Auch keine schlechte Option." Über seine gesundheitlichen Folgeschäden spricht er nicht gern: "Es sind so viele gestorben …" Aus anderen Medien erfährt man aber, dass ihm kürzlich ein Lungenflügel entfernt wurde.
Geiseln der Atomindustrie
So begehrt wie in den letzten Wochen war Julij Borisowitsch aber schon lange nicht mehr. Ständig wollten die unterschiedlichsten Medien von ihm einen Kommentar zu Fukushima oder zum bevorstehenden Jahrestag des Tschenobyl-Desasters. "Ich habe überlegt, was die drei großen Atomunfälle der letzten 32 Jahre gemeinsam haben: Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima. Auf den ersten Blick sehr wenig: Es sind unterschiedliche Reaktoren, verschieden alt, in sehr verschiedenen Ländern." Was sie aber verbinde, das sei die Schwäche der Regulierungsbehörde. Die Nuclear Regulatory Commission (NRC) sei von Barrack Obama, als er noch Kandidat war, als "todgeweiht und in Geiselhaft der Atomindustrie" bezeichnet worden.
In der Sowjetunion unterstand die Kontrollbehörde demselben Ministerium wie der Betrieb der Atomkraftwerke: dem mächtigen Ministerium für Militärische Atomkraft. Und in Japan verhält es sich ähnlich wie in den USA. "Es ist üblich, dass Beamte der Kontrollbehörde nach der Pensionierung hoch dotierte Posten ohne echten Arbeitsbereich bei Tepco bekommen. Wenn einen so etwas erwartet, schaut man nicht so genau hin."
Dass nach dem Unfall von Three Mile Island in den USA jahrzehntelang keine AKWs mehr gebaut wurden, hat für Andrejew einen einzigen Grund: "Wenn man alle Sicherheitsmaßnahmen treffen muss, ist es nicht mehr wirtschaftlich."
Ähnliches prognostiziert er für Japan. Da mit einer Erhöhung der Sicherheitsstandards zu rechnen ist, könne man nicht mehr das leichte Geld mit Atomkraft machen. Die Kosten, die die Bewältigung des Unfalls verursachten, würden die Gewinne weit übersteigen. Mit einer gewissen Schadenfreude bemerkt Andrejew: "Die Gierigen zahlen doppelt."
Auch die IAEO sieht Andrejew als Geschöpf der Atomindustrie. Der damalige Generaldirektor Hans Blix habe Ende der 1980er Jahre bei einem Besuch in Tschernobyl die Arbeit von Spezatom bewundert und sich etwas Ähnliches mit Sitz in Wien gewünscht: "Passiert ist genau nichts. Die Industrie redet nicht gern über Unfälle."
Die Frage drängt sich auf: Glaubt Julij Borisowitsch an die Atomkraft? Als er einst in der Armee mit der Abwehr von Atomgefahren beschäftigt war, hatte er keine Zeit, darüber nachzudenken. Jetzt antwortet er ausweichend. Experten hätten berechnet, dass die Wahrscheinlichkeit eines AKW-GAUs bei einem Unfall in zehn Millionen Jahren liege. Nimmt man die weltweit aktive Anzahl von Kraftwerken, kommt man immerhin auf 1:100.000. Aber: "Wir hatten drei schwere Unfälle in drei Jahrzehnten." Andrejews Conclusio: "Anders als Öl und Gas sind menschliche Dummheit und Gier unerschöpflich."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren