■ Trotz allgemeiner Ablehnung hält Kohl an Karenztagen fest: Humpeln am vierten Bein
Sozialversicherungen zeichnen sich dadurch aus, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer in eine Kasse einzahlen. Die Pflegeversicherung soll das vierte Bein des Sozialpakts werden – das hat Arbeitsminister Norbert Blüm dem Koalitionspartner FDP vor nunmehr fast eineinhalb Jahren abgerungen. Nur unter einer Bedingung aber ließ sich der kleine Regierungskompagnon damals auf den Vorschlag ein: Die neue Versicherung darf die Arbeitgeber nichts kosten. Schließlich gehe die deutsche Wirtschaft schon wegen der hohen Renten-, Arbeitslosen- und Krankenkassenbeiträge am Stock, behaupteten die Gelb-Blauen. So wird also letztendlich die arbeitende Bevölkerung allein für die Pflege aufkommen, und die Arbeitgeber schmücken sich lediglich mit einer sozialen Feder.
Doch auf diesen neuen Putz würden sie gerne verzichten – zu unwägbar erscheinen ihnen die Finanzierungskonzepte. Zu Recht geht man in den Chefetagen davon aus, daß weder durch die Streichung einzelner Feiertage noch durch die Einführung von Karenztagen die Kassen der Betriebe ungeschröpft blieben. In vielen Firmen wird zur Zeit weit unter der Höchstkapazität produziert – da ist mit der Anwesenheit der Belegschaft am Pfingstmontag ebensowenig ein Gewinn zu erzielen wie mit Arbeitnehmern, die auf einige Urlaubstage verzichten, um keine Lohnkürzung hinnehmen zu müssen.
Und auch die gesparten Lohnkosten für Kranke würden letztlich die Betriebskasse nicht entlasten. Die meisten werden sich trotz Fieber ins Büro schleppen, dort wenig produktiv sein, um dann schlußendlich länger als nötig auf der Nase zu liegen. Auch wenn viele Chefs davon ausgehen, daß der gelbe Schein meist nur zum Blaumachen genutzt wird, würde die Karenztageregelung daran nichts ändern – im Gegenteil: Damit es sich lohnt, würde die Krankheitsfeier noch um ein Weilchen verlängert. So oder so – die Streichung der Lohnfortzahlung wird sich für die meisten Betriebe nicht rechnen. Nur wo der Krankenstand extrem hoch ist, die Arbeitsbedingungen also entsprechend schlecht, könnte das Konzept hinhauen.
Obwohl Arbeitgeber, Gewerkschaften, Krankenkassen und Ärzte in seltener Einmütigkeit Karenztage ablehnen, hat die Bundesregierung sie vor kurzem prinzipiell abgesegnet. Nicht einmal mehr die Bedenken der Wirtschaft dringen also zu den christ-liberalen Ministern vor. Abschottung von der Wirklichkeit als Regierungsprinzip. Annette Jensen
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