Trotz all dem Dreck - die Arbeit liebte ich

■ Im Chemiekombinat Bitterfeld, dem giftigsten Betrieb in der ehemaligen DDR, hat die Betriebselektrikerin Gisela Krönke 27 Jahre gearbeitet. Bei einer letzten Betriebsbesichtigung...

Zum Betriebsfotografen hat sie mal gesagt: „Wenn ich mit drauf soll, dann platzt die Linse. Das lassen Sie mal lieber!“ Genützt hatte das nichts. Gisela Krönke, füllig wie sie war, kam aufs Bild, zusammen mit ihrem Chef und ein paar anderen. Und als das Foto in der Werkszeitung 'effektiv' gedruckt war, stand darunter: „Der Jubilant im Kreise seiner Genossen“. „Dabei war von uns doch keiner in der Partei!“ Gisela Krönke belustigt sich noch heute über die 'effektiv'-Ente. An der Tür hängt unverändert das angefressene Schild „Betriebsfotograf“. Hier geht es lang zu ihrer alten Abteilung im Chemiekombinat Bitterfeld (CKB), wo aus Wechselstrom Gleichstrom gemacht wird für die Elektrolyse und die Grafitherstellung.

Heute früh hat Gisela Krönke sich angezogen, als führe sie zu einem Einkaufsbummel nach Dessau. An die schwarz-weiß gestreifte, halbärmelige Bluse hat sei eine Goldbrosche gesteckt. Über dem schwarzen Rock und dunklen Nylonstrümpfen trägt sie einen leichten Mantel. Noch einmal geht sie ihren alten Arbeitsweg.

„Wenn ich aus dem Bus gestiegen war, mußte ich manchmal stehenbleiben und nach Luft schnappen.“ Dann waren die Dünste aus dem Werk so ätzend, daß Gisela Krönke den kurzen Weg über die Zörbiger Straße bis zum Haupttor des Chemiekombinats kaum schaffte. Gelbe Krokusse gehen in der Märzsonne auf, als wollten sie den grün-grauen Rasen neben dem Verwaltungsgebäude beschämen. Wie ein Wunder ist der Betriebselektrikerin Krönke schon immer erschienen, daß hier überhaupt etwas wächst „in all dem Gift“.

Betriebselektrikerin in der Schaltwarte ist die Krönke nun nicht mehr. Sie ist arbeitslos. Weil sie 55 Jahre alt ist, nennt sich ihre Arbeitslosigkeit allerdings „Vorruhestand“. Sie hatte nur die Wahl, mit oder ohne Abfindung arbeitslos zu werden. Da ging sie im letzten Jahr als eine der ersten.

Auf dem Landratsamt in Bitterfeld gibt es die Zahlen . 75.000 Menschen arbeiten im ganzen Kreis, 40.000 allein in den fünf Großbetrieben für Chemie, Braunkohle und Rohrleitungsbau in Bitterfeld und Wolfen. Arbeitslos waren im Februar knapp 4.000, auf Kurzarbeit knapp 33.000, davon die meisten auf null. Frauen und Männer, die wie Gisela Krönke verfrüht in Rente gehen, kommen in der Statistik gar nicht vor. Höchstens 20.000 Menschen, so der Sanierungsplan für die Treuhand, sollen am Ende in den Großbetrieben übrigbleiben.

Siebenundzwanzig Jahre lang hat Gisela Krönke im CKB, der heutigen 'Chemie AG' gearbeitet, davon 19 Jahre Wechselschicht: früh, spät, nachts. Nicht, daß sie nicht wußte, was sie und ihre KollegInnen Tag für Tag und Schicht für Schicht im wohl giftigsten Betrieb der ehemaligen DDR ihrer Gesundheit antaten. Nicht, daß sie nicht auch, wie die meisten BewohnerInnen der beiden Chemiestädte, „was mit den Bronchien“ hat. „Aber“, sagt Gisela Krönke, „ich habe, wie viele Frauen, die ich kenne, meine Arbeit geliebt“. Und sie hatte nun mal kein Ferienheim auf Rügen zu leiten, sondern Dreck zu schlucken, weil ihr Vater auf der Flucht „nur bis Bitterfeld gekommen war“ und ihre Mutter ihm folgte.

Nach dem Willen des Vaters hätte sie Uhrmacherin werden sollen, „doch das war mir zu fein“. So lernte sie Betriebselektriker und ging ins CKB, ihr Mann Harald ging im Braunkohlekombinat als Rangierleiter auf Schicht. Sie fuhr ihre Anlage, machte Dreckarbeiten, kloppte Überstunden, wenn sie zu wenige waren in der Schaltwarte. Die Technik hat sie immer fasziniert.

Natürlich hat sie die Dauermisere im Kombinat bedrückt. Kaum eine Isolierung an den Leitungen, die nicht in Fetzen herunterhängt, „und überall lief die Giftbrühe runter, alles war undicht“. Besonders litt sie mit den Strafgefangenen, die wie Tiere in vergitterten Fabrikhallen in der von den chemischen Bädern verpesteten Luft schuften mußten. Auf der Werksstraße, die an der jetzt menschenleeren Knast-Fabrik vorbeiführt und vom Grafitstaub in eine Rutschbahn verwandelt wird, erinnert sich die Krönke, wie unheimlich es zuletzt war, hier allein zur Schicht zu gehen. Teilbetriebe waren damals schon stillgelegt. „Und jetzt ist alles abgebaut. Alles tot, alles still.“ Die zerfressenen Eingeweide der Werkshallen haben ArbeiterInnen zu Schrotthaufen getürmt. Noch immer riecht es nach Chlor. Früher mußte man hier große Schritte über schillernde Pfützen machen, die sich nicht nur bei Regen auf den Werksstraßen sammelten. Wenn das aggressive Zeug hochspritzte, ätzte es Löcher in die Nylons, „das Paar zu vierzehn Mark!“.

Doch wenn sie sich auch kaputt gemacht haben: „Ich konnte mich“, sagt Gisela Krönke, „nie von meinem Betrieb trennen“. Für sie war das Kollektiv immer mehr als nur ein gemeinsamer Arbeitsplatz. Unmerklich wuchs der Betriebselektrikerin als einer der Älteren ein zweiter, freilich unbezahlter Job zu: der einer Sozialarbeiterin. Über Jahre blieb sie mit jüngeren KollegInnen, die sie selbst angelernt hatte, in derselben Schicht. Die eine wußte, wie es bei der anderen zu Hause aussah. „Manches Mal haben wir hier eine wieder aufgepäppelt,“ erinnert sich die 55jährige und: „Für Probleme mußte man hier ein offenenes Ohr haben.“

Wer hilft jetzt den Frauen?

„Mancher Frau hätte niemand geholfen, wenn es die Kolleginnen im Betrieb nicht getan hätten. Sie wäre eben kaputt gegangen,“ bestätigt Helga Krause, Gleichstellungsbeauftragte im Bitterfelder Landkreis. „Beratung“ ist derzeit das Schlüsselwort. Sie sieht nur zu genau, was schon im kommenden Sommer dringend gebraucht wird: Anlaufstellen für arbeitslose Frauen, für Alleinstehende mit Kindern, für geschlagene Frauen, PsychologInnen, SozialarbeiterInnen, RechtsberaterInnen, ein dichtes Netz von Informationen speziell für Frauen. Ein Verein „Frauen helfen Frauen“ mit bisher zwei geschützten Wohnungen für geschlagene Frauen hat sich schon gegründet: nicht zufällig in Wolfen- Nord, einer typisch sozialistischen Plattenbau-Ansammlung, wo 40.000 Menschen leben, von denen die meisten in den Chemie- und Braunkohlekombinaten arbeiteten. Daß die Frauen, die jetzt massenhaft auf die Straße gesetzt werden, wieder Arbeit finden, sieht Ingenieurin Krause, die bis zum letzten Sommer chemische Anlagen für die Filmfabrik in Wolfen (Orwo) konzipierte, eher skeptisch. Gerade in den Großbetrieben arbeiten viele Frauen in Berufen, die im Westen als Männerberufe gelten. Schon heute werden sie dort von den Männern verdrängt. Auch in Krauses ehemaliger Abteilung mußten zuerst die Frauen in Kurzarbeit gehen, „unsere Herren Leiter hatten sich schnell unentbehrlich gemacht“.

Horst Tischer, stellvertretender Landrat des Kreises Bitterfeld und SPD-Parteikollege der Frauenbeauftragten meint, neue Arbeitsplätze zu schaffen, sei die beste Frauenpolitik. Er bezweifelt jedoch selbst, ob von ihm favorisierte Konzepte wie die Beschäftigungsgesellschaft, die Ausweitung eines riesigen Gewerbegebietes auf der grünen, altlastenfreien Wiese, Umwelttechnologieförderungen und Imagekampagnen für den Industriestandort Bitterfeld/ Wolfen Frauen in nennenswertem Umfang zugute kommen werden: „Die Frauen werden arge Probleme kriegen.“

Und dann noch den Frust der Männer aushalten

Die haben sie auch so schon. Sabine Posselt ist 29 und lebt mit ihrer Tochter allein. Nur deshalb hat sie noch Arbeit in der Chemie AG: „Für mich“, weiß sie, „mußte eine Zweiundfünfzigjährige gehen“. Seitdem sie vierzehn ist, arbeitet Sabine in der Chemie. Auch privat ist sie kaum je aus dem Dunstkreis des einstigen Kombinates hinausgekommen. Ihre Eltern arbeiteten hier, sie selbst wohnt in der Häuserreihe neben dem Haupttor unmittelbar am Werk. Mit Kaffee und Umarmungen haben die Kolleginnen Gisela Krönke in ihrer alten Schaltwarte empfangen. Es gibt heute nur ein Thema: Selbstmord. Daß Leute solche Gedanken haben, wenn die Arbeit weg ist, kann die 29jährige Arbeiterin im blauen Trainingsanzug gut verstehen. „Du frißt den Frust in dich rein, und irgendwann knallt die Sicherung durch.“ Was sie machen würde, weiß sie nicht. Wegzugehen kann sie sich kaum vorstellen. Dabei hat sie für ihre bisherige Sicherheit einen hohen Preis bezahlt: Ihre Tochter leidet unter chronischer Bronchitis, sie selbst hat offene Ekzeme in der rechten Hand und am Bein.

Sie würde schon gehen, meint dagegen Monika Hoppe und steckt sich noch eine Zigarette an, wenn sie woanders Wohnung, Arbeit und einen Platz im Kinderhort für ihre bald schulpflichtige Tochter bekäme. In der Bitterfelder Gegend sieht die 36jährige keine Zukunft, bezweifelt, daß eine Umschulung oder ein Job für sie dabei sein könnte. Informiert über ihre Rechte, über Umschulungsmöglichkeiten, ABM oder die Projekte, die vollmundig in den Zeitungen angekündigt werden, sind die Frauen nicht. Noch fühlen sie sich ihrem Betrieb zugehörig, und bis Juni, „meldet der Buschfunk“, sei noch Geld da, um sie zu bezahlen.

Ute Simon kommt aus einem Dorf bei Hohenturm. 35 Kilometer fährt sie zu jeder Schicht mit dem Bus. Sofern der Bus fährt, denn auch der Werksverkehr bricht zusammen. In ihrer Familie ist sie die letzte, die noch Arbeit hat. Zwei erwachsene Söhne zu Hause, ihr Mann „macht auf Straßenkehrer“ in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme und grämt sich, so tief gesunken zu sein, und dann „ist da noch der Opa zu versorgen“. Nicht nur, daß sie als einzige noch einen vollen Verdienst nach Hause bringt, sie muß auch den Frust ihrer vier Männer aushalten.

Gisela Krönke hört zu. Sie sitzt da vor ihrer Tasse Kaffee, beleibt wie Buddha und mit ihrem fast spitzbübischen Lächeln, das zu den resolut kurzgeschnittenen braunen Haaren paßt. Von 22 Frauen, die hier zu ihrer Zeit gearbeitet haben, sind noch sechs da. Zehn bis zwölf Tage im Monat arbeiten sie kurz. Männer dagegen sind neu hinzugekommen: aus stillgelegten Betriebsteilen.

Ratschläge geben kann Gisela Krönke diesmal nicht. Der vertraute DDR-Alltag existiert nicht mehr, auf die Politik hat sie noch nie gesetzt. Die ehemalige Betriebselektrikerin ist nur um eine Erfahrung reicher als ihre jüngeren Kolleginnen: wie das ist, arbeitslos zu sein. Und fast scheint es, als sei die Gewißheit, ohne Arbeit zu sein, leichter zu ertragen als die Vorstellung, bald arbeitslos zu werden.

Es scheint nur so. Wie es ihr zu Hause ergangen ist, erzählt die Krönke ihren Kolleginnen nicht, nur, daß sie jetzt „drüber weg“ sei. Dabei hat sie sich in den Wochen nach ihrer letzten Schicht zum ersten Mal „völlig nutzlos“ gefühlt. „Richtige Depressionen hab ich gehabt.“ Sie war allein in drei Zimmern, Küche und einem handtuchgroßen Bad. Allein mit dem goldgerahmten Rosenstrauß über dem Sofa, mit schnell getaner Hausarbeit, mit dem sündhaft teuren Fernseher — „Für das Geld könnte man sich jetzt in jede Stube einen stellen“ — allein mit ihrer Zeit. „Ich habe doch das Hausfrauendasein nie kennengelernt, und ich wollte ja auch nie bloß Hausmütterchen sein.“

Ihr Mann fuhr damals noch Kies und Baumaterial zwischen dem Bahnhof und dem Braunkohlentagebau Goitsche hin und her. Seit wenigen Tagen ist Harald Krönke nun auch zu Hause. „Jetzt wirft er sich nachts im Bett herum“, sagt seine Frau. „Ich tröste ihn immer, ich hab mich ja auch wieder gefangen.“ Harald Krönkes Sorge ist jetzt, ob er genügend Rente bekommen wird und ob sie die Wohnung weiter bezahlen können. Von den geplanten Renovierungen redet er schon nicht mehr.

Zehn Parteien leben mit Krönkes in dem Haus in der Virchowstraße, acht Frauen sind inzwischen arbeitslos oder auf Kurzarbeit null. Alle sind zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt. Als junge Familien haben sie den fünfstöckigen Plattenbau in Wolfen-Nord bezogen. Alle haben in den großen Werken gearbeitet, die meisten in Wechselschicht. Beim „Sonderverkauf von Textilien und Schuhen“ in der Zentrum-Gaststätte schauen um zwei Uhr nachmittags Männer mit den Kindern zu, wie die Frauen an den Wühltischen Billigdeckchen für 10 Mark raussuchen. „Das hat's früher nicht gegeben“, sagt Gisela Krönke. „Da konnte immer nur einer einkaufen gehen, der andere war auf Schicht.“

Gisela Krönke ist trotz allem nicht verbittert. „Klar, meine Schwester drüben hat mehr.“ Aber wie die Schwester in München ohne eigenes Einkommen von Ehemann abhängig zu sein, ist der Schwester in Wolfen- Nord ein Graus. Auch ihre eigene Tochter lebt mit zwei Kindern allein. Noch hat sie Arbeit in der Buchhaltung der Chemie AG. „Wenn sie nun auch arbeitslos wird, will ich sie unterstützen, etwas gespart haben wir ja.“ Heiraten um ein sicheres Auskommen zu haben? „Würde sie nie tun. Würde ich ihr auch nie raten!“ Niemals! Das hatten auch voller Inbrunst die anderen Frauen in der Schaltwarte gesagt.

Die entlassene Betriebselektrikerin Krönke ist froh über die Vereinigung, aber auch wütend, „daß der Westen in uns nur Fresser und Säufer sieht und uns hier mit dem billigen Trödel vollgestopft hat“. Es hätte alles langsamer gehen müssen, meint sie. Bitterfeld und Wolfen ohne Chemieindustrie kann sie sich nicht vorstellen. Die Betriebe müßten saniert werden, „so daß wenigstens die jungen Leute eine Chance haben. Wenn wir nur noch Arbeitslosengeld kriegen, dann haben wir bei uns das Elend.“

Wenn wir uns solidarisieren, ist Kohl weggefegt

„Wenn wir uns hier solidarisieren, ist der Kohl weggefegt“, träumt dagegen im Landratsamt SPD-Mann Horst Tischer. Die Hydra, die er zu schlagen hat, ist vielköpfig: Da ist die Kohl-Regierung in Bonn, die Treuhand in Berlin, die CDU-Regierung in Magdeburg, und auch im eigenen Kreis haben die Konservativen die Mehrheit. Aber da ist auch die Kälte der Menschen im Westen und die Lähmung derer im Osten. Und Gleichgültigkeit und Unkenntnis darüber, was in den Chemiestädten mit den toten Schloten wirklich los ist. In Bitterfeld, wußte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Gerd Gies kürzlich der 'Mitteldeutschen Zeitung‘ zu berichten, würden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen schon im Mai 15.000 Menschen Beschäftigung bei der Umweltsanierung bieten. Horst Tischer zeigt auf die „Arbeitsmarktzahlen“ des Bitterfelder Arbeitsamtes: „456 Beschäftigte in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“ steht da.

In der Schaltwarte im Werk haben die Frauen ein paar Fotos aus dem Schränkchen gekramt, das all die Trophäen für hervorragende Leistungen des Kollektivs beherbergt. Die meisten Bilder sind alt, manche noch aus dem Krieg, dann das sozialistische Kollektiv der 50er und 60er Jahre. Aber da sind auch Fotos, die vor gar nicht langer Zeit aufgenommen wurden. Die Frauen gehen sie durch: Die ist weg und die ist weg und die seit kurzem auch. „Ach guck“, sagt eine plötzlich und fast ein bißchen wehmütig „und hier ist ja auch die Gisela“.