■ Trotz Freilassungen: Die Geiselnahme von Budjonnowsk hat Tschetschenen in den Augen der Weltöffentlichkeit ihres Opferstatus beraubt.: Tschetschenien einen Bärendienst erwiesen
Trotz Freilassungen: Die Geiselnahme von Budjonnowsk hat Tschetschenen in den Augen der Weltöffentlichkeit ihres Opferstatus beraubt.
Tschetschenien einen Bärendienst erwiesen
„Der Überfall auf Budjonnowsk war mit Sicherheit in Zusammenhang mit dem G-7-Gipfel in Halifax geplant.“ Das steht für die liberale russische Presse außer Zweifel. Die noch am Freitag verbreitete Annahme lautete, General Dudajew habe durch den Terrorakt Präsident Jelzin daran hindern wollen, den Krieg in Tschetschenien praktisch als eine Sache der Vergangenheit abzutun.
Inzwischen werden immer mehr Fakten bekannt, die Zweifel an dieser Konstruktion nahelegen. „Da steckt der FSK, der Föderative Gegenspionagedienst, dahinter“, meinte sofort mein Freund Maxim, ein Petersburger Journalist, der erst kürzlich aus Tschetschenien zurückgekehrt ist. „Bei den Patrouillen, in Tschetschenien selbst und an der russischen Grenze, könnte eine gute Hundertschaft tschetschenischer Kämpfer niemals ohne Einverständnis von ,ganz oben‘ aus Moskau soweit vorgedrungen sein.“ Maxim meint, daß der Terrorakt in Budjonnowsk die TschetschenierInnen in den Augen der Welt ihres Opferstatus beraubt.
Genau dieses Ziel verfolgt offenbar auch das russische Außenministerium. Großzügig warf es mit „Schwarzen Petern“ nur so um sich: Den einen bekam der „verständnislose“ Westen zugeschoben, den anderen Dudajew. „Die Ereignisse in Budjonnowsk sollten letzlich die Augen jener Politiker im Ausland für die Realität öffnen, die bisher nicht in der Lage gewesen sind, die wahren Gründe der tschetschenischen Tragödie zu verstehen, und es deshalb vorzogen, Rußland zu belehren, anstatt eine reale Partnerschaft im Kampf gegen Separatismus und organisiertes Verbrechen anzustreben.“ Das Außenministerium forderte dazu auf, den Kampf gegen das „Übel des Terrorismus“ auf die Tagesordnung von Halifax zu stellen.
Tatsächlich hat der Überfall dem tschetschenischen Volk einen Bärendienst erwiesen. Noch im letzten Jahr warf Dudajew gelegentlich wirklich mit Terrordrohungen um sich. Neuerdings jedoch war er wesentlich vorsichtiger geworden. Er sprach nur noch davon, daß sich der Krieg mit der Zeit auf russisches Territorium ausweiten werde. Der Freischärler-Präsident hat sich von der Aktion in Budjonnowsk distanziert, der dortige Führer der Geiselnehmer, Bassajew, behauptet, völlig selbständig gehandelt zu haben.
Als das Drama in Budjonnowsk seinen Höhepunkt erreichte, stritten zwei radikale Parteien, die Demokratische Partei Rußland und Schirinowskis Liberaldemokraten wie üblich um die höchste Aufmerksamkeit der Presse. Beide forderten dabei eines: eine wesentliche Verstärkung des Personals und eine bessere Finanzierung der Geheimdienste. Inzwischen fanden es allerdings Abgeordnete vor allem der Reformparteien wichtiger, direkt nach Budjonnowsk zu fliegen, um dort zu vermitteln. An der Spitze dieser Gruppe steht Sergei Kowaljow, der wie kein anderer dafür sorgte, daß der Krieg in Tschetschenien zum Thema in Rußland und der Welt wurde.
Doch nicht an ihn oder an die demokratische russische Öffentlichkeit richtet der Führer der Rebellen, Schamil Bassajew, sein Verhandlungsangebot, sondern an Ministerpräsident Tschernomyrdin. Scheinbar gilt aber auch Boris Jelzin den Terroristen nicht als politisch wichtige Person. Statt dessen trat der Ministerpräsident, der seit langem als aussichtsreicher Kandidat für die russischen Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr gilt, in die Rolle des Oberkommandierenden. „Während wir hier reden, wird in Tschetschenien geschossen“, erklärte Bassajew per Telefon. „Wir formieren eine Mannschaft für Tschetschenien, die real verhandeln wird.“ Von Jelzin gab es bis Sonntag mittag nur eine müde Presseerklärung. Darin wurden die Antiterroreinheit OMON und die Armee zwar gescholten, weil sie die Einreise von Bassajews Leuten verschlafen hatten. Gleichzeitig hieß es darin aber: „Die Leute, die gegen Bandenkriminalität kämpfen, sind echte Profis.“ Barbara Kerneck, Moskau
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen