Trinkwasser-Mangel im Gazastreifen: Am Wasserhahn vergiftet
Ohne Chlor ist das Leitungswasser ungenießbar. Die Kläranlagen reichen nicht aus, eine Entsalzungsanlage fehlt. Immer wieder gibt es Vergiftungsfälle bei Kindern.
![](https://taz.de/picture/285705/14/junge_trinkt_wasser_f.20101226-14.jpg)
JERUSALEM taz | Nabil Barkoune gibt sich souverän. "Es ist alles unter Kontrolle", kommentiert der Chef des öffentlichen Kinderkrankenhauses in Gaza fünf Vergiftungsfälle junger Patienten in seiner Einrichtung. Die Kinder hatten das ungereinigte Wasser aus dem Hahn getrunken und waren erkrankt.
Ohne die Zugabe von Chlor ist das Wasser im Gazastreifen ungenießbar. "Wir verfügen in unserem Krankenhaus nicht über die nötigen Anlagen, um das Wasser zu reinigen", erklärt Barkoune und verspricht, das zu ändern, damit seine kleinen Patienten fortan nur noch sauberes Wasser zu trinken bekommen.
Die Behörden geben ungern zu, dass es überhaupt ein Problem gibt. "Wir sind doch nicht in Somalia", sagt ein Beamter im Hamas-Gesundheitsministerium kopfschüttelnd und streitet ab, dass das Wasser im Gazastreifen gesundheitsgefährdend sein könnte.
Etwas anders sieht das Ahmad al-Yaqoubi, Abteilungsleiter der Wasserbehörde im Gazastreifen, die bis heute von der Palästinensischen Autonomiebehörde finanziert wird. "95 Prozent des Wassers ist zum Trinken nicht geeignet", sagt al-Yaqoubi. Am verbreitetsten bei hoher Nitratkonzentration im Grundwasser sei das "Blue-Baby-Syndrom", ein Sauerstoffmangel vor allem bei Neugeborenen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) legt die Werte von Chlorid auf 250 Milligramm pro Liter fest, im Gazastreifen enthält das Wasser die doppelte bis vierfache Menge. Bei den Nitratwerten sieht es nicht viel besser aus. "Das Wasser ist so schwer belastet, dass es nur durch Zugabe von Chlor überhaupt getrunken werden kann", sagt al-Yaqoubi.
Grund für die Misere ist die unfreiwillige Misswirtschaft, die wiederum Folge der dramatischen Überbevölkerung ist. Bei 1,6 Millionen Menschen, die auf ganzen 365 Quadratkilometern Land leben, sind die Wasserressourcen begrenzt. Die mit Abstand größte Frischwasserquelle ist der Grundwasserleiter im Küstenbereich.
Bei Entnahme von bis zu 60 Millionen Kubikmetern Wasser pro Jahr könnte sich der Grundwasserträger auf natürliche Weise regenerieren. "Wir pumpen 170 Millionen Kubikmeter ab", sagt al-Yaqoubi. "Damit haben wir ein Defizit von über 100 Millionen Kubikmetern jedes Jahr." Die Folgen sind ein absinkender Wasserstand und das Eindringen von Seewasser in den Grundwasserträger.
Unzureichend sind auch die Kapazitäten von Kläranlagen. Marc Engelhardt, Chef der KfW-Entwicklungsbank in den Palästinensergebieten, die mit Geldern des Bundesministeriums für Entwicklung Abwasserprojekte im Gazastreifen finanziert, veranschlagt, dass "täglich zehntausende Kubikmeter Abwasser ungeklärt ins Mittelmeer fließen". Davon werde auch das Grundwasser schwer belastet.
Schon jetzt habe die marode Wasserqualität vor allem den Zitrusfrüchten stark zugesetzt, wohingegen "Olivenbäume den hohen Nitratgehalt im Wasser verkraften können". Die einzige Hoffnung, die al-Yaqoubi hat, sind Entsalzungsanlagen, um zunächst wenigstens die Trinkwasserversorgung sicherzustellen.
Er selbst kauft für seine Familie täglich 70 Liter Wasser, "das über mehr oder weniger gute Qualität verfügt", von einem der mehreren Dutzend kleinen privaten Entsalzungsunternehmen und zahlt dafür umgerechnet 20 Cent. "Die Leute hier denken, dass, wenn das Wasser klar ist und gut schmeckt, alles in Ordnung ist. Leider fehlen oft wichtige Mineralien wie Eisen, Kalzium und Magnesium."
Schon vor der Machtübernahme des Gazastreifens durch die Hamas war eine Entsalzungsanlage in einer Größenordnung geplant, mit der die gesamte Bevölkerung hätte versorgt werden können. Die palästinensische Führung erwarb ein passendes Grundstück in unmittelbarer Meeresnähe, und die US-Regierung investierte 100 Millionen Dollar in eine Machbarkeitsstudie, nur um das Projekt dann aufgrund der politischen Entwicklungen doch wieder auf Eis zu legen. Nach Ansicht des Wasserexperten drängt die Zeit. "Wenn hier nicht bald etwas passiert", warnt al-Yaqoubi, "dann kippt der Grundwasserleiter um und wäre nie wieder zu regenerieren."
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