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Traum vom SultanatOsmanismus Reloaded

Die Verfassungsänderung soll die Macht des Staatspräsidenten erweitern. Kommt Erdoğan damit seinem Ziel, der erste gewählte Sultan zu sein, näher?

Kostümparty im Staatspalast Foto: dpa

Während die Oppositionsparteien das Ergebnis des Referendums wegen möglicher Manipulation anfechten, erklärte Staatspräsident Erdoğan am Abend des 16. April, das Volk habe in einem außergewöhnlichen Akt für den Systemwechsel gestimmt.

Das Präsidialsystem, wie es die Türkei vorsieht, bedeutet eine deutliche Machterweiterung der Kompetenzen des Staatsoberhaupts. Dessen Anhänger reanimieren schon seit längerem die osmanische Geschichte und geben einen Eindruck davon, wie die von ihnen erhoffte Zukunft der Türkei zumindest formal aussehen könnte.

Das Rekurrieren auf die Vergangenheit stellt vor allem ein innenpolitisches Instrument dar. Ziel ist die von Erdoğan viel propagierte „neue Türkei“ im Jahr 2023. Die Verfassungsänderung ist der nächste juristische Schritt in diese Richtung. Zu ihrem hundertjährigen Bestehen soll die ganze Welt das neue Gesicht der vor allem wirtschaftlich starken Republik sehen.

Dass diese neue Türkei auch einen neuen Osmanismus beinhaltet, lässt sich kaum noch übersehen.

Ceyda Nurtsch

1979 geborene Journalistin. Promovierte Orientalistin. Arbeitet von Berlin aus auf Deutsch und Türkisch u.a. für die Deutsche Welle und Deutschlandradio. Ihre Interessengebiete sind Kultur, Politik und Menschenrechte in der Türkei und in der Diaspora.

Der Begriff „Neo-Osmanismus“ kam bereits vor ein paar Jahren aufs Parkett. Damals umschrieb er vor allem das Unbehagen gegenüber einer möglichen außenpolitischen Ausrichtung der Türkei auf die frühere Einflusssphäre des Osmanischen Reichs. Die Protagonisten waren Staatspräsident Erdoğan und der damalige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu – der die Bezeichnung allerdings ablehnte.

Osmanische Wörter zurück im Sprachgebrauch

Zuvor hatte sich die AKP in den Jahren 2000-2005 noch um die Umsetzung der EU-Reformen bemüht. Mit dem Gefühl, hinsichtlich einer möglichen EU-Mitgliedschaft auf Granit zu beißen, orientierte sie sich jedoch um, hin zu den arabischen Staaten, einst Teil des längst untergegangenen Reichs.

Gerne hätte sich Erdoğan auch hier als Vertreter „des Volks“ gesehen. Dieses Vorhaben versandete jedoch aufgrund der Innenpolitik der arabischen Länder und internationaler Machtinteressen.

Nicht nur führte Erdoğan mit seinem 2014 fertig gestellten Präsidentenpalast die Worte „Saray“ (Serail) und „Külliye“ (eigentlich eine an eine Moschee angebundene karitative Stiftungseinrichtung) wieder in den alltäglichen Sprachgebrauch ein. Auch für Türk*innen ungewöhnlich war die Präsentation anlässlich des Staatsbesuchs von Palästinenser-Chef Mahmud Abbas.

Vermeintlich „historisch“ gekleidete Soldaten

Auf den Stufen des Serials standen 16 – vermeintlich „historisch“ gekleidete –Soldaten, die die 16 verschiedenen Reiche auf dem Boden der heutigen Türkei repräsentieren sollten. Eine Machtdemonstration für das In- und Ausland, um zu zeigen, welche Tradition die politische Zukunft der Türkei bestimmen soll.

Eine ganz eigene Vorstellung davon, was das Jahr 2023 bedeutet, hat Fatih Nurullah Efendi, Anführer der sogenannten Uşşaki, einer der Orden, die wie etwa die Nakşibendi ihren Einfluss auf die Politik geltend machen. Er sieht die 100 Jahre Republik lediglich als ein Intermezzo im Glanz des in der „erleuchteten Zivilisation“ gegründeten Reichs. „Die Republik ist am Ende“, erklärte er in einem Interview. Nun folge das zweite Osmanische Reich.

Eine Wiederbelebung der osmanischen Vergangenheit haben sich auch die sogenannten „Häuser der Osmanen 1453“ (Osmanlı Ocakları 1453) auf die Fahne geschrieben. 2005 gegründet, machen sie aus ihrer absoluten Treue zu Erdoğan keinen Hehl. Nach dem vereitelten Militärputsch im Sommer 2016 folgten sie ohne zu zögern seinem Aufruf, die „Demokratie auf den Straßen zu verteidigen“.

Über die sozialen Medien appellierte ihr Vorsitzender Emin Canpolat an die Bevölkerung, sich zu bewaffnen, um gegen die Vaterlandsverräter zu kämpfen. Unter dem Hashtag #AKSilahlanma twitterte er: „Wir rufen alle Brüder und Schwestern auf: Bewaffnet Euch für die Fahne und für Erdogan“.

Onlineshop während Gebet geschlossen

Um die ehemalige Sultansfamilie wieder ins Spiel zu bringen, nutzt Nilhan Osmanoğlu die Gunst der Stunde. Als Enkelin 5. Grades des Sultan Abdülhamit II. (Regierungszeit 1876-1909) betreibt sie einen Internetshop, der osmanische Antiquitäten verkauft und während des Freitagsgebets geschlossen ist. Offen spricht sie ihre Unterstützung für eine Verfassungsänderung und damit einer Erweiterung der Befugnisse des Staatspräsidenten aus. Das parlamentarische System will sie abgeschafft sehen.

Zurzeit sei geplant, in einer Allianz von Erdoğan und der Osmanenfamilie in der ganzen Türkei Schulen zu eröffnen, erklärt sie. Diese Schulen („Enderun Mektepleri“) würden unter dem Dach des Präsidialamtes stehen. Hier sollen die Politiker von morgen ausgebildet werden. Die Feinde Erdoğans und ihres Großvaters seien die Gleichen, so Osmanoğlu.

Doch nicht nur die Sultansenkelin zieht eine konkrete Parallele zwischen ihrem Vorfahren und dem heutigen Staatspräsidenten.

Während vor ein paar Jahren noch die TV-Serie „Das prächtige Jahrhundert“ ihre Zuschauer in verkitschte nostalgische Tüll-Träumereien versetzte, und auf dem Balkan sowie in den arabischen Ländern zum Exportschlager wurde, läuft heute „Hauptstadt Abdülhamit“. Die neue Serie im türkischen Staatsfernsehen greift viel politischer und zielgerichteter auf die osmanische Geschichte zurück und verpackt Botschaften zu aktuellen Konfliktstoffen wie Pressefreiheit in eine historische Hülle. Die Parallelen zum aktuellen Diskurs sind nicht zu übersehen.

Ornament versus Inhalt

Nun, da der Osmanen-Hype auch auf die in Deutschland lebenden Türk*innen übergeschwappt ist, die ihrer Begeisterung in Form von Sultanssiegeln auf Autoscheiben Ausdruck verleihen und über die sozialen Medien die Auferstehung des vergangenen Reichs propagieren, stellt sich folgende Frage: Soll diese glorifizierte, orientalistische Vorstellung eines mit prunkvollen Ornamenten besetzten späten osmanische Zeitalters nur die Stimmung im Land prägen? Oder soll sie auch mit konkreten Inhalten gefüllt werden?

Dafür sprechen die Bestrebungen, das säkulare Bildungswesen wie es im späten 19. Jahrhundert entstand, allmählich aufzulösen. So werden die ursprünglichen Predigerschulen, İmam Hatip, deutlich gestärkt. Hier ist nun Osmanisch Teil des Curriculums.

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1 Kommentar

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  • Aus der Geschichte lernen?

     

    Bei einer Wahl bedarf es keiner Mehrheit, die Volksgemeinschaft kommt später.

     

    Die NSDAP erreichte am 5. März 1933 auch nur 43,9 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen.

     

    Das Deutsche Historische Museum, in Berlin, schreibt, zur Etablierung der NS-Herrschaft, zur Reichstagswahl vom 5. März 1933 wie folgt:

     

    Als am 5. März 1933 ein neuer Reichstag gewählt wurde, konnte insbesondere für die Kommunisten von "freien Wahlen" keine Rede mehr sein. Ihre führenden Politiker waren schon kurz nach der Machtübernahme am 30. Januar in "Schutzhaft" genommen oder in die Illegalität getrieben worden. Auch zahlreiche Sozialdemokraten hatten sich in den Untergrund gerettet, der Parteivorstand emigrierte nach Prag.

     

    Aus den letzten freien Reichstagswahlen vom 6. November 1932 war die SPD mit 20,4 Prozent aller Stimmen als zweitstärkste Kraft hervorgegangen, die KPD hatte es als drittstärkste Kraft auf 16,9 Prozent gebracht.

     

    Von Neuwahlen versprach sich Adolf Hitler einen Einbruch in das Lager der Arbeiterparteien und die absolute Mehrheit für die NSDAP, die im November 1932 auf 33,1 Prozent abgerutscht war.

     

    Trotz des weitgehend aus dem Untergrund geführten Wahlkampfs behauptete sich die KPD am 5. März 1933 mit 12,3 Prozent als drittstärkste Kraft; die SPD kam auf 18,3 Prozent.

     

    Mit 43,9 Prozent verfehlte die NSDAP ihr Ziel der absoluten Mehrheit deutlich. Nur in einer Koalition mit der "Kampffront Schwarz-Weiß-Rot" erreichte sie eine parlamentarische Mehrheit.

     

    Doch das Ergebnis dieser letzten Reichstagswahl hatte nur noch symbolischen Wert: Allen bis dahin nicht verhafteten Reichstagsabgeordneten der KPD wurde ihr Mandat entzogen, die SPD wurde gut drei Monate später verboten. [Ein Auszug, - R.S.]

     

    Vgl. Deutsches Historisches Museum, Berlin, am 22. Juni 2015: Die Reichstagswahl vom 5. März 1933. Von Burkhard Asmuss. http://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/etablierung-der-ns-herrschaft/reichstagswahl