: Transsubstantion
SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN „montage AV“ interessiert der französische Filmtheoretiker André Bazin
„Warum Bazin“: ohne Fragezeichen. So die Überschrift der jüngsten Ausgabe der akademischen Filmzeitschrift montage AV. Frage und Antwort in einem sind hier geboten, so suggeriert es der Titel. Und gleich im Editorial erklärt der Herausgeber Guido Kirsten, wie es dazu kommt. Einerseits nämlich ist André Bazin für die Filmwissenschaft selbstverständlich einer der großen Klassiker. Nicht nur war Bazin ungeheuer produktiv als Kritiker und – freilich aus Prinzip – unsystematischer Theoretiker des Kinos. Er war auch das viel zu früh verstorbene Vorbild für die jungen Kritiker der Cahiers du Cinéma, die bald mit ihrer Nouvelle Vague zu weltbekannten Regisseuren werden sollten. Francois Truffauts erster Film, „Sie küssten und sie schlugen ihn“ ist dem kurz zuvor verstorbenen Bazin gewidmet, der für ihn ein Ersatzvater war.
Das ist das eine. Andererseits gilt Bazin vielen als Vertreter eines heute nicht mehr haltbaren „ontologischen“ Realismus; als Theoretiker, der durch die auf ihn folgende strukturalistische – und damit zeichentheoretische – Revolution überholt ist; als einer, der letztlich metaphysischen Ideen der direkten Wirklichkeitsabbildung im fotografischen und damit auch filmischen Bild anhing. Und der deshalb bestimmte filmische Verfahren aus ideologischen Gründen präferierte: das tiefenscharfe Bild (vor allem bei Orson Welles), in dem die Wirklichkeit sich im Zusammenhang ihrer Raumverhältnisse abbildet; die Plansequenz, also die Aufnahme ohne Schnitt, in der nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit möglichst unzerteilt zur Darstellung kommt. Und in der Tat hat Bazin die virtuosen Montagekünstler des Kinos, wie etwa das sowjetische Propaganda-Genie Sergej Eisenstein, abgelehnt. In ihren Werken, so sein Urteil, werde die Wirklichkeit zugerichtet und manipuliert – und damit verfälscht und entstellt.
Die Mehrzahl der teils sehr prominenten Beiträger zu diesem Band rücken in ihren Aufsätzen das Bild vom ontologischen Realisten André Bazin zurecht. Ein Propagator des Realismus, so das Argument von Dudley Andrew oder David Bordwell, war Bazin ohne Zweifel. Ontologisch naiv aber war er nicht. Sehr wohl war ihm bewusst, dass auch das Abbild von Wirklichkeit im Film durch bestimmte Verfahren hergestellt werden muss, dass „der Film auch eine Sprache ist“ (Bazin). Allerdings liegt darin, wie Bazin genau weiß, eine Paradoxie: Damit der Film mit der Realität – wie etwa im Neorealismus – scheinbar zusammenfallen kann, darf er diese Verfahren nie in den Vordergrund stellen. Das gilt für den Plot wie für die Kameraarbeit, das Spiel der Darsteller und den Schnitt. Es gehört dann jedoch, so David Bordwell, zu den faszinierenden Seiten von Bazins Werk, dass man in seinen höchst detaillierten Analysen einzelner Einstellungen bis heute sehr viel über diese „unsichtbaren“ Verfahren der Mise en Scène lernen kann.
So weit die theoriepolitisch korrekten und durchweg arg braven Bazin-Rettungsversuche des Bandes, zu denen unter anderem noch ein reichlich lustloser historischer Überblick von Thomas Elsaesser, ein Versuch des Herausgebers Guido Kirsten, Roland Barthes’ „Realitätseffekt“ für die Realismusfrage bei Bazin fruchtbar zu machen, sowie zwei Erstübersetzungen einschlägiger Bazin-Texte kommen.
Der bei weitem originellste Beitrag geht freilich mit beträchtlicher Chuzpe einen ganz anderen Weg. Was hieße es denn, so lautet die Frage, die sich Vinzenz Hediger stellt, die sonst gerne ignorierte Herkunft Bazins aus dem Katholizismus richtig ernst zu nehmen? Und Bazins Realismuskonzept als Variante des Wandlungswunders der Kommunion, also als „Transsubstantiation“ zu begreifen?
In einem gewagten, aber an Subtilitäten nicht armen Aufriss stellt Hediger den Theoretiker Bazin so in die christlich-abendländische Geschichte des tiefliegenden Bedürfnisses, die Fotografie und das fotografische Bild des Films als „natürliches Bild der Welt“ (Originalzitat Bazin) zu begreifen. Das heißt aber auch: in eine Tradition, die das Werk nicht – romantisch – vom Künstler oder auteur her, sondern als potenziell „objektive“ Aufnahme der Welt zu denken versucht. In einer letzten Volte macht Hediger noch Jean-Luc Godard zum Kronzeugen eines solch antimodernen Kunstbegriffs. Man muss seiner Bazin-Deutung gewiss nicht zustimmen – und gerade, wenn man es tut, hat man guten Grund, Bazin selbst zu widersprechen. Daran, dass Hedigers Provokation ein höchst anregender Beitrag ist, ändert das freilich nichts. EKKEHARD KNÖRER
■ montage AV, 18/01/2009, 160 Seiten, 12,90 €