Tour de France: Brötchengebers Parolen
Dank eines famosen Ritts über die ersten Berge schlüpft Linus Gerdemann ins Gelbe Trikot. Und alle fabulieren wie einstudiert vom sauberen Neuanfang.
LE-GRAND-BORNAND taz Man weiß nicht so recht, was man anfangen soll, mit diesem Linus Gerdemann. Da ist einerseits dieser wirklich nette westfälische Junge mit der wilden blonden Mähne und den großen blauen Augen, der so herrlich mutig bei der ersten Alpenetappe einfach mal drauf losfuhr, wie aus Versehen allen davon stiefelte und dabei auch noch das Gelbe Trikot abstaubte. Und der danach vor Überwältigung gar nicht mehr aufhören konnte, herzerweichend zu schluchzen.
Eigenblutdoping: Wir sind in den Alpen und müssen feststellen, dass der Berg der natürliche Feind des Radfahrers ist. Höchste Zeit, dass uns Doktor Fuentes mit seinen Blutbeuteln Dampf macht. Nix im Beutel und große Sprünge, das mag für Kängurus richtig sein, aber nicht für Radprofis. Beim Eigenblutdoping wird zuvor abgezapftes Blut - bis zu einem Liter - dem Athleten zurück"gespendet". Statt Vollblut kann man auch die aus dem Blutplasma konzentrierten Erythrozyten nehmen. Leistungsgewinn: 8 bis 10 Prozent. Pionier ist der finnische Leichtathlet Lasse Viren, der mit Hilfe des damals noch nicht verbotenen Blutdopings 1972 und 1976 Olympiasieger über 5.000 und 10.000 Meter wurde.
Obacht: Die Nebenwirkungen können tödlich sein. Im Durcheinander von Doktor Fuentes Kühlschrank können Beutel verwechselt oder falsch beschriftet werden. Bei längerer Lagerung steigt die Gefahr, dass sich Gerinnsel bilden. Der Blutdruck steigt, die Viskosität des Bluts verschlechtert sich. Thrombosegefahr!
Ausrede des Tages: "Mein Hund hat Asthma." Der belgische Radprofi Frank Vandenbroucke, nachdem die Dopingfahnder 2002 seine üppige Hausapotheke entdeckt hatten.
------------------------
GESAMTWERTUNG
Stand nach der 7. Etappe: 180. und Letzter: Mark Cavendish (GB) + 44:44 Minuten; 179. und Vorletzter: Danilo Napolitano (Italien) + 42:48; 178. Wim Vansevenant (Belgien) + 42:29; 177. David Zabriskie (USA) + 39:55; 176. Aliaksandr Kuschynski (Weißrussland) + 39:29; 175. Leif Hoste (Belgien) + 39:01; 174. Anthony Charteau (Frankreich) + 38:52; 173. Stéphane Augé (Frankreich) + 38:34; 172. Giampaolo Cheula (Italien) + 38:09; 171. Romain Feillu (Frankreich) + 37:53; 170. Thor Hushovd (Norwegen) + 36:50; 169. Bram De Groot (Niederlande) + 36:40
Und dann ist da derselbe Junge, der im gleichen Atemzug verkündete, dass er für den neuen, sauberen Radsport stehe und für die Zukunft und für eine neue Generation und für was weiß ich noch alles. Fast genau die gleichen Formulierungen gebrauchte er wie sein Pressesprecher Christian Frommert, der ein paar Meter weiter stehend sagte: "Wir glauben, dass mit Linus Gerdemann eine junge Generation aus dem Schatten der alten Garde heraustritt. Gerdemann ist jemand, der unseren offensiven Antidopingkampf voll mitträgt und nach außen vertritt." Eine Absprache kann es nicht gegeben haben, die beiden T-Mobile-Vertreter Gerdemann und Frommert waren sich nach dem durchaus begeisternden Siegesritt des 24-jährigen Münsteraners noch nicht begegnet.
Aber Gerdemann ist ein helles Köpfchen, und er hat verstanden, wo es langgeht bei T-Mobile. Die Marketing-Planer in Bonn haben beschlossen, nach dem Ullrich-Debakel im vergangenen Jahr nicht auszusteigen. Für das Konzernimage wurde es als strategisch sinnvoller befunden, als Kraft der Erneuerung in einem an sich schönen, aber leider versauten Sport aufzutreten. Re-Branding nennt man das in Marketingkreisen. Einst sollte T-Mobile mit Jan Ullrich für Dynamik, Modernität, Leistung und Teamwork stehen. Jetzt soll das Team dem Konzern attestieren, dass er zum Umdenken und zur Erneuerung fähig ist.
Gerdemann hat das verinnerlicht, und so sprudelte es nur so aus ihm heraus, wofür er zu stehen hat, als er in Le Grand-Bornand seinen großen Sieg feierte. Es war sehr überzeugend, und man wollte es ihm gerne glauben, weil er ja wirklich mitreißend gefahren war und weil er ja auch so ein echt guter Typ ist. Und weil man ja auch die Nase voll hat von diesem permanenten Doping-Gerede und sich ja wirklich wünscht, dass man die Tour wieder hemmungslos genießen darf. Aber das kam alles etwas zu schnell und war alles ein klein wenig zu einstudiert. Wer wirklich sich selbst damit überrascht, dass er plötzlich in seiner Disziplin in die Weltspitze vorstößt, der hat keine Rede vorbereitet, wem oder welcher Sache er den Sieg widmet.
Linus Gerdemann war nicht wirklich überrascht. Er weiß um sein Talent, spätestens seit sein ehemaliger Teamchef Bjarne Riis - seines Zeichens auch schon Jan-Ullrich-Entdecker und -Förderer - ihn als die größte deutsche Begabung seit Ullrich bezeichnete. Gerdemann hat schon mit 22 klar und deutlich gesagt, dass er "ganz nach oben" will. Und er ging vor anderthalb Jahren zu T-Mobile, weil er glaubte, dort nach dem auch damals schon absehbaren Abtritt von Ullrich am schnellsten seine Chance zu bekommen. Und so kam es ja auch.
Zum Team der Erneuerung aber wurde T-Mobile erst später, nach der Demission von Ullrich. Erst dann, im vergangenen Herbst, als Bob Stapleton T-Mobile übernahm und der ganze Laden den alten Radsportlern Godefroot und Ludwig weggenommen wurde, entdeckten T-Mobile und Gerdemann, dass sie wunderbar zueinanderpassen. Hier die Konzernstrategen, die die Kontrolle über ihre Investition in die eigene Hand nahmen und sich fortan weigerten, sich von traditionalistischen Radsport-Insidern, Sturköpfen und Gaunern ins Handwerk pfuschen zu lassen. Dort der talentierte Newcomer, der noch jung und unprofiliert genug war, um sich im Sinne der Konzernpolitik steuern und präsentieren zu lassen.
Jetzt erzeugt die Verbindung überraschend schnelle Synergien. "So schön kann Radsport sein", freute sich T-Mobile-Chef Bob Stapleton nach Gerdemanns Triumph darüber, dass alles so wunderbar passte: der Sieg, die unschuldige Rührung von Gerdemann, seine linientreue Siegesrede und der wunderbare Tag in den savoyischen Alpen. Das war doch was anderes als dieser Klöden und dieser Matthias Kessler, die nach ihren Erfolgen für T-Mobile im vergangenen Jahr noch von der Freundschaft mit Jan Ullrich plapperten und ihre Leistungen dem gechassten Kumpel widmeten.
Nicht, dass man nicht gerne glauben möchte, dass dies tatsächlich ein Neubeginn war. Das wäre wirklich schön. Zu schön. Denn etwas an der Inszenierung vom Samstag war einen Tick zu rund. Vielleicht wäre es überzeugender gewesen, wenn Gerdemann einfach beim Schluchzen und bei einer durchaus nachvollziehbaren Sprachlosigkeit geblieben wäre. Sein Sieg hätte auch Spaß gemacht, wenn er nicht sofort in ein Fanal umgemünzt worden wäre. Und die Skepsis, die im Radsport nach wie vor angebracht ist, bleibt so oder so bestehen. Egal, wie oft ein Gerdemann die Parolen seiner Arbeitgeber von sich gibt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid