■ Tour d'Europe: Schutzwall bröckelt
30 bis 40 Millionen Menschen, so schätzt die Weltgesundheitsorganisation (WHO), werden sich weltweit bis zum Jahr 2000 mit dem immunsystemschwächenden Virus infiziert haben oder bereits an Aids erkrankt sein.
Seit die Epidemie sich Mitte der 70er Jahre in Afrika, Nordamerika und Europa zu verbreiten begann, haben sich rund 13 Millionen Männer, Frauen und Kinder angesteckt. Während das Afrika südlich der Sahara mit 7,5 Millionen HIV- Infektionen am härtesten betroffen ist, wurden bis März dieses Jahres in Europa rund 87.500 Aids- Fälle gemeldet – davon allein 84.476 in Westeuropa. Die Liste der gemeldeten Fälle wird angeführt von Frankreich (22.939), gefolgt von Spanien (17.029), Italien (15.780) und Deutschland (9.205). Es ist kein Zufall, daß die Trennungslinie der europäischen HIV/ Aids-Ballungsgebiete zu den weniger betroffenen Regionen deckungsgleich mit der des Kalten Krieges verläuft. Nicht etwa, daß die Regierenden der osteuropäischen Länder vor ihrer Öffnung die Infiziertenzahlen verwischten – doch die Grenzen, die ihre Bevölkerung von der westlichen Welt abschirmten, schützten sie auch weitgehend vor den Faktoren, die die Verbreitung des Virus andernorts begünstigten: freier Handel, Völkerwanderung, (Sex-)Tourismus, et cetera. Kein Wunder, daß die Zahlen der Infizierten gerade dort am höchsten sind, wo der politische, wirtschaftliche und soziale Wandel am stärksten greift.
Während Rumänien, Ungarn und Rußland zu den osteuropäischen Ländern mit der höchsten Aids-Rate zählen, ist in Ländern wie Kirgisien, Albanien oder Aserbaidschan noch kein einziger Aidsfall offiziell gemeldet.
Das Auseinanderreißen von Gemeinschaften und Familien, der soziale Druck – all diese Faktoren begünstigen nunmehr die Ausbreitung von Aids: Prostitution und Drogenhandel greifen flächenbrandartig um sich. Knapp die Hälfte aller Aidskranken auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien (339 Fälle) und in Polen (130) haben sich durch infiziertes Spritzbesteck angesteckt. Doch dafür muß man nicht unbedingt drogenabhängig sein. In Rußland etwa fürchten sich Autofahrer vor Blutkontrollen – nicht etwa weil sie Angst vor dem Resultat, sondern einer HIV-Infektion haben. Die mangelhafte medizinische Ausrüstung, läßt die einmalige Verwendung von Spritzen nicht zu. Etwa die Hälfte aller HIV-Infektionen auf dem Gebiet der Ex-UdSSR (rund 150 bekannte Aids-Fälle) wurden in Krankenhäusern übertragen. Noch tragischer die Zahlen in Rumänien: Unter insgesamt 2.235 Aids-Fällen sind allein 2.100 Kinder, die in Kliniken angesteckt wurden. Daß selbst westliche Industrieländer das Problem der Virus- Übertragung in Gesundheitseinrichtungen nicht im Griff haben, hat die Vergangenheit gezeigt.
Gerade deshalb könnten sie viel tun, um zu verhindern, daß die osteuropäischen Nachbarn ihre Fehler in der HIV/Aids-Politik nachahmen.apas
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