Totgesagter Künstler: Leben gegen die Stoppuhr
Das Leben des Bildhauers Søren Engel ist ein Spagat: zwischen Kunst und Kommerz, Leben und Tod. Dem 13-Jährigen hatte ein Arzt den Tod mit 30 prognostiziert. Heute verarbeitet Engel die falsche Vorhersage.
HAMBURG taz | Søren Engel sitzt im Park Fiction, dem Park der Widerständigen in Hamburg, und hat gerade eine Flasche tschechisches Bier geöffnet. Engel ist massig und groß, mit einem jungenhaften Gesicht. Er trägt einen Lincolnbart und Glatze, Streetware-Klamotten und auf den ersten Blick unterscheidet er sich kaum von den kreativ aussehenden Mittdreißigern aus dem Viertel, die ihren Kindern buddhistische Namen geben. Mit jedem Wort Engels verblasst jedoch das erste stereotype Bild ein wenig mehr.
Wenn es nach der Prognose eines Arztes gegangen wäre, tränke der 34-Jährige heute kein tschechisches Bier. Er spräche nicht über seine neue Arbeitstechnik. Er hätte keine Inspiration aus seinen Träumen gezogen. Tote träumen nicht. Und das wäre er laut dieser Diagnose gewesen – gestorben mit 30 Jahren. 1992 brach Engels Teenager-Welt ad hoc in der Hamburger Kinder-Polyklinik zusammen. Engel war 13 Jahre und allein, als er von der hohen Konzentration des Cholesterins in seinem Körper und einer Lebenserwartung von höchstens 30 Jahren erfuhr. Auf Wunsch des Arztes wartete seine Mutter auf dem Flur.
Kein Jet, kein Taj Mahal
Sich kurzerhand mit dem Begriff Hyperlipidämie und dem eigenen Tod auseinanderzusetzen, überfordert jeden 13-Jährigen. Eine Zukunft, ein Leben, das plötzlich auf 17 Jahre schrumpft. „Mit 13 sollst du Dosenbier trinken, aber du sollst nicht über den Tod nachdenken“, sagt Engel. „In dem Film Bucket List erstellen zwei todkranke Männer eine Liste von Dingen, die sie vor ihrem nahenden Tod noch erleben möchten. Ich jedoch hatte weder Privatjet, noch konnte ich das Taj Mahal sehen. Ich habe Zeitungen ausgetragen.“
Dreimal abgelehnt
Engel verdrängt, nur hin und wieder bricht es in den folgenden Jahren aus ihm heraus. Im Urlaub, wenn die Kumpels biertrunken ins Zelt kriechen und er am liebsten mit einem Floß nach Afrika segeln will. Nur keine Zeit vergeuden. Das Leben bis Ende 20 ist daher eine Suche mit kurzer Deadline. Eine Suche nach sich selbst, nach Geltung, nach Anerkennung. Engel bringt eine Tischlerlehre hinter sich, dann steckt er dreimal eine Absage der Muthesius Kunsthochschule in Kiel ein. Aber nach endlosem Winkelanschneiden als Tischlerlehrling weiß er, dass er die Kunst sucht. Er findet die Bildhauerei und im Hamburger Bildhauer Erich Gerer seinen Lehrmeister.
Dynamische Holzskulpturen menschlicher Anatomien sind der Kern seines Schaffens. Anfangs verschleiert Engel das eigene Befinden, bis er eines Nachts einer Holzskulptur, die ihm viel bedeutet, den Kopf abschlägt und sie anschließend mit dem Flammenwerfer bearbeitet. Sein erstes Selbstbildnis ist entstanden. „Das war schweißtreibend und verdammt sinnlich“, erinnert er sich.
Jeder 30. Geburtstag im Freundeskreis setzt ihn ein wenig mehr in Panik, der eigene „Dreißigste“ braut sich langsam zusammen. Mit Ende 20 recherchiert er mit seiner damaligen Freundin, einer Ärztin, über seine vermeintliche Krankheit und lässt die Zeit Revue passieren. Damals in der Poliklinik wurden ausschließlich medizinische Tests mit allen erdenklichen Körpersekreten durchgeführt. Anderthalb Jahre spritzt Engel zudem ein noch nicht zugelassenes Medikament. Er wird auf eine Diätschule für Diabetiker geschickt, lernt wie man Kuchen ohne Eier backt und nimmt zu. Sein Blutfettwert bleibt indes unverändert katastrophal. Helfen tut schließlich eine weitere Nahrungsumstellung, aus eigener Intuition.
Wären damals auch psychosomatische Tests durchgeführt worden, so hätte man erkannt, dass Engel weder unter einer Stoffwechselkrankheit leidet noch eine Lebenserwartung von nur 30 Jahren befürchten muss. Die korrekte Diagnose, die er erst fast 17 Jahre später erfährt, lautet auf Essstörung und hat psychische Ursachen.
Der Künstler verarbeitet das Geschehene in seinen Skulpturen und als Musiker. Auf Konzerten schreit er noch heute den Text „Strahlender Mörder“ aus seinem Inneren heraus. Das Lied hat er jenem Arzt „gewidmet“, der ihm mit 13 eine Stoppuhr von 17 Jahren in den Kopf gepflanzt hat. Heute mit 34 Jahren zählt sich Engel kritisch zu den Gentrifizierungs-Spackos und redet von Prostitution in der Kunstszene.
Nichts ohne Geld
Engel lebt. Er lebt für Kunst und muss von etwas leben. „Natürlich hätte ich sechs Orgasmen bekommen, wenn ich in einer dieser wichtigen Galerien ausstellen könnte. Aber bei einem Treffen mit einer bekannten Galeristin, hielt diese mich für den Fahrer des Künstlers.“ Ein Künstler im Spagat zwischen Berufung und Vermarktung. „Nein, ich mache nichts mehr ohne Geld. Dann bin ich eben eine Hure.“
Konträr zu seinen Skulpturen, die derzeit in der Schlosskapelle Remplin ausgestellt werden, haben seine gegenwärtigen Arbeiten eine wichtige neue Basis – Farbe. Unzählige Farbschichten werden sukzessive auf eine Holzfläche aufgetragen. Dann folgt ein Akt der partiellen Zerstörung. Engel fräst und schleift seine Träume in die trockenen Schichten ein. Plastische, eindrucksvolle Figuren, Gesichter und Fragmente kommen zum Vorschein.
Neben dem Überleben seines 30. Geburtstags in einer Bar, kleineren Ausstellungen in Hamburgs Sub-Kultur und einer großen Ausstellung im Brahmskontor hat Engel spontan geheiratet und ist jetzt Mitglied einer griechischen Großfamilie.
Das tschechische Bier ist ausgetrunken, die Sonne steht tief. Zeit für Engel, den Park zu verlassen und Träume sichtbar zu machen.