: Tor zur Vergangenheit
George W. Bush und Wladimir Putin zitieren die Abschreckungsspirale des Kalten Krieges. RAF-Täter und Opfer reden fast täglich. Das kommt Ihnen bekannt vor? Warum alte Ängste wieder hip sind
VON MARTIN REICHERT
Mit dem medialen Diskurs verhält es sich derzeit so wie mit den Dudelsendern: Nur das Beste aus den Siebzigern und Achtzigern – es fehlen jedoch die Knaller von heute.
Wiedergänger dominieren stattdessen das öffentliche Bild. Zum Beispiel kommen die Russen – schon wieder. Das Reich des Bösen befindet sich in der Restauration, der ehemalige Kalter-Kriegs-Partner USA versucht, ihm mit einem Raketenabwehrsystem Paroli zu bieten. Wenn auch diesmal nicht vom Weltraum aus gesteuert, sondern vom gerade hinter dem Eisernen Vorhang hervorgezerrten Polen. Warum nicht gleich am Samstag wieder die Sirenen heulen lassen. Katastrophenschutzübung, nur so zur Sicherheit, man weiß na nie.
Der Evil-Empire-Abwickler Boris Jelzin ist gerade unter die Erde gekommen, sein Nachfolger Wladimir Putin brütet längst wieder über den Ausbau der russischen Flotte und träumt von der „wahren Wiedergeburt des russischen Volkes“ – und in den Albträumen des Westens von der Weltherrschaft. War der russische Bär nach 1989 auf niedliche Knut-Größe zusammengeschrumpft, im neuen Jahrtausend kann er es im Rahmen europäischer Angstdiversifikation locker mit Krummsäbel schwingenden islamischen Horden aufnehmen. Anfangs wollte „der Russe“ sich nur bei den Liegen an mediterranen Stränden vordrängeln, doch nun könnte „er“ uns womöglich die Lampe ausknipsen, indem „er“ den Gashahn abdreht. Gazprom-Fußball-Sponsoring? Nur ein Propagandatrick, der von finsteren Absichten ablenken soll.
Da kann man nur noch hoffen, dass auch die Russen ihre Kinder lieben, Stings 80er-Hit „Russians“ läuft wieder häufiger im Radio: „In Europe and in America, there’s a growing feeling of hysteria.“ Am besten sind doch die vertrauten Ängste – gute, alte Freunde – besonders wenn die neugestalteten Feindbilder à la Islam ziemlich diffus sind. Nicht wenige sehnen sich zurück in die überschaubaren Zeiten des Kalten Krieges, feinbildtechnisch eine Schwarzweiß-Ära. Nur drei Programme und fünf Knöpfe am Gerät.
Hier sind die Guten, dort sind die Bösen – die alten Feinde sind immer noch die besten. Wenn man heute den Farb-Flat-Fernseher anschaltet, sieht man nur noch RAF-Mitglieder, -Gegner, -Versteher und -Experten. Einziger Unterschied zu den Siebzigerjahren: Es wird nicht mehr dazu geraucht, denn der Horror projiziert sich heutzutage auf Nikotinkringel statt auf atomare Wolken. Kolumnen-Zombie Franz-Josef Wagner zahlt nun aus Protest gegen RAF-TV keine GEZ-Gebühren mehr, raucht aber wacker weiter. Sein Arbeitgeber Bild steigt derweil Stefan Wisniewski bis in die Kölner WG-Küche hinterher – ohne ihn anzutreffen, seine Post hatte er wohl schon aus dem Briefkasten geholt – und hetzt mit Schaum vor dem Mund gegen Boock, Klar, Mohnhaupt & Co, als ob man das Jahr 1979 schriebe.
Verraucht ist da nichts, jedenfalls keine Wut. Und die jüngere publizistische Generation – die „damals“ noch im Kindergarten war – steckt heute anscheinend noch im Praktikum fest, während die Altvordern ihre alten Platten auf den Teller werfen. Die größten Hits aus den Siebzigern und Neunzigern, von Dschingis Khans Kosaken-Grusel-Pop-Hit „Moskau“ („Moskau, Tor zur Vergangenheit, Spiegel der Zarenzeit, rot wie das Blut“) bis zu „Karl der Käfer“ („Karl der Käfer wurde nicht gefragt, man hatte ihn einfach fortgejagt“) – die Texte können sie auswendig.
Hang the DJ – neue Ängste braucht das Land! Wenn die „neue Ernsthaftigkeit“ lediglich darin besteht, alte Kamellen wieder aufzuwärmen, dann ist sie nicht weniger beliebig als die „Anything goes“-Neunziger. Doch die verspätete Jugend von heute steht wieder nur distanziert bis kopfschüttelnd daneben, während sich die Alten aufregen und alte Familienstreitigkeiten austragen.
Einzige messbare Haltung: Diese ganzen alten Gruselhits kommen auf keinen Fall auf die Playlist des iPod.